Desengaño

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„Henry", flüstere ich und eile durch die schmutzigen Pfützen auf dem Parkett zu ihm. Ich sinke neben ihm auf die Knie, der dünne Stoff meiner Hose saugt sich augenblicklich mit dem stinkenden Wasser voll. Henry starrt nur leer geradeaus, in seinen Augen keine Spur von ihrem üblichen Funkeln.

Vorsichtig lege ich meine Hand auf seine Schulter und mit einem lauten Schluchzen bricht er unter meiner Berührung zusammen. Hilflos schlinge ich meine Arme um ihn, um ihn davor zu bewahren, sich vollends in das stinkende Wasser unter uns zu legen. Sein Körper zittert an meinem und ich glaube, ich war in meinem ganzen Leben noch nie so verzweifelt.

Ich weiß nicht, wie lange wir einfach nur so auf dem nassen Boden knien, doch Henry ist wie erstarrt, zittert nur noch ganz leicht und allmählich bekomme ich Angst. Ich schaffe es, sein Handy aus seiner Hosentasche zu fischen und versuche zunächst, Dr. Cooke zu erreichen.

„Hallo, Sie sprechen mit der Mailbox von Dr. Cooke. Leider bin ich aktuell nicht erreichbar, bitte wenden Sie sich an meine Sekretärin oder in dringenden Fällen an meine Vertretung", höre ich die Ansage und lege schnell wieder auf.

Ich erinnere mich, dass Dr. Cooke mir von seiner Vertretung erzählt hat, doch in der Aufregung kann ich mich weder an den Namen noch an die Telefonnummer erinnern und außerdem wäre ich nicht im Stande, jemand Außenstehendem zu erklären, wie es um Henry und mich bestellt ist.

Mit bebenden Fingern scrolle ich durch Henrys Kontakte und wähle eine weitere Nummer.
„Henry Schatz", antwortet die kichernde Stimme meiner Schwester nach ewigem Klingeln. „Es ist gerade sehr ungünstig. Kann ich dich-"
„Jenny, hier ist Max", unterbreche ich sie hektisch.
„Max?", fragt sie verwirrt. „Was ist los? Warum rufst du nicht von deinem Handy an?"
„Das ist kaputt", erwidere ich knapp. „Kannst du herkommen? Ins Atelier? Am besten mit Dominic. Ich... wir brauchen Hilfe. Bitte."

Bei den letzten Worten höre ich meine eigene Stimme brechen und eine erste Träne läuft über mein Gesicht.
„Wir sind gleich da", antwortet meine Schwester und dann ist die Verbindung unterbrochen. Ich lege meine Hände an Henrys Wangen und blicke in seine stumpfen, leeren Augen.
„Jenny und Dominic kommen, okay? Du bist nicht allein, Henry. Ich bin hier", flüstere ich.

•••

Während ich sehnsüchtig auf die Ankunft von Jenny und Dominic warte, halte ich den apathischen Henry in meinen Armen und blicke mich im Atelier um. Da mein künstlerisch talentierter Freund seine Werke fein säuberlich um sich herum auf dem Boden verteilt hatte um sie zu nummerieren, konnte das widerliche Wasser ganze Arbeit leisten.

Einige Bilder - wie das mit den gelben Gummistiefeln - kann ich gerade noch erkennen, doch der Großteil ist braun verfärbt oder sogar unter dem Wasser aufgeweicht und eingerissen.

Ich kann nur versuchen nachzuempfinden, was Henry gerade fühlt, doch es muss furchtbar sein und ich muss hart schlucken, um die Tränen hinter meinen Augen zurückzudrängen. Henry braucht mich jetzt, ich muss stark sein. Für ihn.

„Was ist hier passiert?", höre ich die entsetzte Stimme meiner Schwester und kurz darauf kommt sie ins Atelier gelaufen. Ihre nackten Füße in ihren schlichten Sandalen werden ganz nass und graubraune Flecken von dem Wasser bleiben auf ihrer leicht gebräunten Haut.

„Die Sprinkleranlage wurde ausgelöst", berichte ich. „Ich habe eine Unterhaltung anderer Mieter gehört, als ich kam."
„Es hat gebrannt?", fragt Jenny aufgeregt und ich schüttele den Kopf. Gerade weiß ich nicht, ob ein Feuer nicht sogar besser gewesen wäre. Das Ergebnis für Henry wäre das Gleiche, aber ich schätze, mit dramatischen Ursachen kann man besser umgehen als mit profanen.

Jenny kommt zu uns gelaufen und blickt sich sorgenvoll um, ich erkenne in ihren Augen, dass auch ihr das Ausmaß der Situation gerade erst vollends bewusst wird. Ängstlich blickt sie mich an und hockt sich dann vor uns, ihre Hand an Henrys Rücken.
„Henry, wir sollten euch nach Hause bringen", wispert sie und ich nicke zur Antwort.
Henry reagiert nicht, er starrt nur leer geradeaus.

Platschende Schritte lassen Jenny und mich aufsehen und ein atemloser Dominic kommt hereingelaufen.
„Einer der neuen Mieter hat aus Versehen die Sprinkleranlage ausgelöst", klärt er uns auf. „Ich habe unten gerade den Vermieter angetroffen. Er sagt, die Versicherung wird für den Schaden aufkommen. Es wird einige Wochen dauern, bis das alles renoviert ist, aber sie bekommen-"

Er stoppt seine Rede, als Jenny und ich nur stumm mit dem Kopf schütteln und er sich langsam im Atelier umsieht.
„Okay", sagt er stattdessen und klatscht einmal kurz in die Hände. „Wir sollten erst mal hier raus und euch nach Hause bringen."
Ich stehe vorsichtig auf und ziehe den wehrlosen Henry mit mir nach oben.
„Komm Henry", flüstere ich ihm zu. „Wir fahren erst mal nach Hause."

Als wir hinaus auf die Straße treten, fällt mir der Picknickkorb auf meinem Gepäckträger ins Auge. Unsere Pläne über ein unbeschwertes Wochenende in der Natur ohne störende Liams scheinen gerade unendlich weit weg zu sein.
„Liam", murmele ich und blicke Henry besorgt an.
„Wer?", fragt Jenny, die beschützend ihre Hände an Henrys Seite hat.
„Der Galerist", presse ich hervor. „Ich... ich muss ihn informieren. Nächste Woche sollte Henrys Ausstellung sein!"

Ich reiche Jenny meinen Rucksack und sie versucht, den vollkommen regungslosen Henry zu Dominics Auto zu begleiten. Allerdings klammern sich Henrys Hände fest in mein Hemd und wollen mich nicht loslassen. Ein kleines Stück meines Herzens bricht ab bei dem Gedanken, dass mein geliebter Henry gerade so leidet, dass er mich nicht einmal loslassen kann.

„Ich bleibe bei dir", wispere ich ihm beruhigend zu. „Ich muss nur kurz Liam anrufen. Möchtest du... möchtest du mein Buch solange halten?"
Hilfesuchend schaue ich Jenny an, die bereits in meinem Rucksack wühlt und mein sonnengelbes Julibuch zutage fördert.

Henrys Finger umschließen das Buch, pressen es fest an seine Brust, als wäre es ein Teil von mir und Jenny nickt mir zu, als ich durch das Telefonbuch in Henrys Telefon scrolle. Meine Schwester führt Henry leise mit ihm redend zum Auto, dessen Tür Dominic bereits aufhält.

Schnell finde ich den Namen Liam Brannigan und drücke auf den Anruf-Button. Für eine Sekunde huscht die Erinnerung an meine letzten Worte an ihn durch meine Gedanken, doch meine Eifersucht oder Liams Gefühle für Henry sind an dieser Stelle fehl am Platz. Jetzt geht es ums Geschäft.

„Henry", antwortet er bereits nach dem zweiten Klingeln. „Ich bin so froh, dass du-"
„Hier ist Max", unterbreche ich ihn monoton. „Henrys Freund. Es gab einen Vorfall."
„Ich habe Henry nicht angerufen oder irgendwas-", will er sich verteidigen, doch ich gehe wieder dazwischen.
„Im Haus des Ateliers wurde die Sprinkleranlage ausgelöst", erkläre ich so ruhig ich kann.
„Oh mein Gott", kreischt Liam. „Ist Henry okay? Ist ihm was passiert?"

In diesem Moment kann ich ihn nicht mehr so unsympathisch wie bisher finden. Er sorgt sich um Henry und nicht um die Bilder und das zeigt mir, dass er in seinem Inneren ein guter Mensch sein muss, der einfach auch nur einen guten Menschen für sich sucht. Dass er dafür ausgerechnet meinen Henry möchte, ist dabei durchaus nachvollziehbar.

„Es war kein Feuer", berichte ich ruhig. „Er ist unverletzt, aber er steht unter Schock. Liam... die Bilder... sie sind alle zerstört."
Ich höre nur Stille am anderen Ende und dann ein leises „Fuck!"
„Ich melde mich wieder", murmele ich und blicke sorgenvoll zum Auto, in dem Henry nun sitzt und offenbar gedankenverloren in mein Julibuch kritzelt. „Ich wollte nur Bescheid geben."
„Aber.. Max, was ist mit-", höre ich Liam noch, bevor ich den Anruf beende.

Ich eile zu meinem Fahrrad und nehme den Picknickkorb vom Gepäckträger, bevor ich zu Henry ins Auto klettere. Dominic schließt die Tür hinter mir und ich lege umständlich meinen Arm um Henrys Schulter. Als ich auf die Seiten des Buchs auf seinem Schoß blicke, steht dort:

Desengaño - das Erwachen aus einer Illusion

Wortschatz | ✓Where stories live. Discover now