Zanshin

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Zu Hause angekommen begleiten Jenny und Dominic mich und den noch immer vollkommen apathischen Henry nach oben in die Wohnung. Jenny trägt unseren unangetasteten Picknickkorb und Dominic hält uns die Tür auf.
„Möchtest du ins Bad, Henry?", frage ich meinen Freund sanft, doch er reagiert nicht. Besorgt blicke ich zu meiner Schwester, die hilflos mit den Schultern zuckt.
„Und wenn du Dr. Cooke anrufst?", schlägt sie vor.
„Das habe ich schon versucht, aber seine Mailbox ging ran. Vermutlich bekommt seine Frau das Baby."

Ich beschließe, dass es besser ist, Henry ins Bett zu bringen und führe ihn ins Schlafzimmer. Wehrlos lässt er sich von mir aufs Bett legen und die Schuhe von den Füßen ziehen, bevor ich ihm auch die durchnässte Hose ausziehe und eine dünne Decke über ihn lege.
„Ich bin gleich zurück", wispere ich und küsse seine Schläfe. „Ich bin im Wohnzimmer, wenn du mich suchst."
Dass er nur katatonisch vor sich hinstarrt, macht mir große Angst und ich schlucke gegen den harten Klumpen in meinem Hals, ehe ich zurück ins Wohnzimmer gehe.

Jenny hat inzwischen den Picknickkorb ausgepackt und sieht mich besorgt an.
„Wo ist überhaupt dein Telefon, Max?", will sie wissen. Betreten sehe ich auf den Boden. Meine gestrige Eifersucht und das ganze Drama um Liam kommen mir gerade unsagbar albern und unwichtig vor.
„Ich hatte einen kleinen Wutanfall und dabei ging es wohl zu Bruch", murmele ich und höre meine Schwester überrascht nach Luft schnappen.

„Ich kann dir nachher ein neues Telefon vorbeibringen", kommt Dominic mir zu Hilfe und legt seine Arme um Jennys Taille. „Ich habe vor Kurzem ein Neues von meinem Chef bekommen und brauche mein Altes nicht mehr."
„Danke", flüstere ich und lasse mich erschöpft aufs Sofa sinken. Wortlos setzt Jenny sich neben mich und reicht mir mein gelbes Julibuch, das sie Henry offenbar wieder abgenommen hat.

„Können wir irgendwie helfen?", fragt sie und ich zucke hilflos mit den Schultern.
„Ich wüsste nicht wie", murmele ich. „Ich bleibe bei ihm und werde ihm die Medikamente geben, die Dr. Cooke für schwierige Phasen verschrieben hat. Ich hoffe, es geht ihm bald besser."
„Und du kommst zurecht?", hakt sie nach.
„Keine Ahnung, Jennifer!", erwidere ich aufgebrachter, als ich es will und sie zuckt entsetzt zusammen.

Dominic tritt hinter das Sofa und legt fürsorglich seine Hände auf Jennys Schultern.
„Henry wird das erst einmal verarbeiten müssen", erklärt er ruhig. „Wir fahren jetzt nach Hause und ich bringe dir gleich noch das Telefon, Max. Sollte irgendwas sein oder du Hilfe mit etwas brauchen, sind wir auf jeden Fall da. Du musst nur Bescheid geben."

„Danke", presse ich erstickt hervor und schlage mein Buch auf. Ich kann mich kaum erinnern, wann ich zum letzten Mal etwas aufgeschrieben habe.
Jenny gibt mir einen Kuss auf die Wange und lässt sich dann von Dominic zur Haustür führen.
„Melde dich, wenn wir etwas tun können, Max", erinnert sie mich noch, ehe sie die Wohnung verlassen.

Ich ziehe den Stift aus der kleinen Lasche und beginne eine neue Seite in meinem Buch. Die Kritzeleien von Henry schreien mich förmlich vom Papier an und eine Träne tropft auf das Papier, während ich versuche, meine Gedanken und Gefühle zu formulieren.

Ich bin besorgt. Besorgt um Henry, was dieser Vorfall mit ihm macht. Ob er sich davon erholen wird oder ob er sich für immer in die Traurigkeit zurückzieht. Besorgt darüber, wie es mit der Galerie weitergeht. Sicherlich muss für die Ausstellung, die nächsten Freitag beginnen sollte, irgendwie Ersatz organisiert werden und leider bin ich überhaupt nicht in die Vertragsmodalitäten involviert, ob Henry dadurch noch zusätzliche Probleme bekommt und wie das zu lösen wäre. Er kann unmöglich innerhalb von sechs Tagen fünfunddreißig neue Bilder malen!

Zittrig atme ich ein und als mein Kopf halbwegs leer ist, stehe ich auf und gehe ins Schlafzimmer, um nach Henry zu sehen. Er liegt noch immer in Fötusstellung auf dem Bett, seine hübschen Augen nun geschlossen. Ich frage mich, ob er wohl hungrig ist, doch traue mich nicht, ihn zu wecken. Stattdessen gehe ich zurück in die Küche und nehme eine der Dosen mit den Sandwiches aus dem Kühlschrank. Ich beiße ein Stück von dem weichen Brot ab und zucke erschrocken zusammen, als es an der Tür klingelt.

Dominic steht davor und hält mir ein Smartphone hin.
„Bekommst du es hin mit der SIM-Karte?", fragt er und ich nicke. „Kann ich sonst noch irgendwas machen?"
„Könntest du vielleicht in der Galerie anrufen? Dieser Liam ist für Henrys Ausstellung nächste Woche zuständig. Ich habe ihn vorhin kurz informiert, aber ich weiß nicht, was jetzt alles auf Henry... auf uns zukommt und-"
„Na klar", unterbricht Dominic mich freundlich. „Das mache ich sehr gern. Hast du die Nummer?"

Ich ziehe Henrys Telefon hervor und leite Dominic Liams Kontaktdaten weiter. Dankbar lächele ich ihn an, als er sich ein zweites Mal für heute bei mir verabschiedet und schließe die Tür leise hinter ihm.

Nachdem ich mich umgezogen habe, lege ich mich zu Henry ins Bett und schlinge meinen Arm von hinten um seine Hüfte. Draußen ist es noch hell, es wird noch nicht einmal zwanzig Uhr sein, doch ich bin so erschöpft, dass ich nicht länger wachbleiben kann. Ich vergrabe meine Nase in Henrys Nacken, atme tief ein und schließe meine Augen. In meinen Gedanken der stille Wunsch, dass all dies nur ein furchtbarer Alptraum war.

•••

Ich schrecke hoch und blicke mich desorientiert um. Es ist noch dunkel und Henrys Bettseite neben mir ist leer. Die digitale Uhr auf meinem Nachttisch zeigt 2:42 Uhr an. Verschlafen setze ich mich auf. Die Laken auf Henrys Seite fühlen sich kühl an, er kann nicht gerade eben erst aufgestanden sein.

Müde stehe ich auf und mache mich auf die Suche nach ihm. Im Wohnzimmer finde ich ihn nicht, ebensowenig in der Küche oder im Bad. Wieder zurück im Schlafzimmer stelle ich fest, dass seine Schuhe, die ich ihm gestern ausgezogen habe, nicht mehr neben dem Bett stehen, auch die Hose, die ich über einen Stuhl gehängt hatte, ist weg. Hektisch renne ich ins Badezimmer und finde nach kurzem Suchen Henrys Telefon in meiner Hosentasche.

„Max?", antwortet eine müde Jenny nach mehrmaligem Klingeln.
„Henry ist weg", schreie ich schon fast ins Telefon.
„Was?" Auch meine Schwester scheint nun vollkommen wach zu sein. „Was meinst du damit?"
„Er ist nicht da", presse ich hervor. „Seine Schuhe sind nicht da. Er ist weg. Ich muss ihn suchen!"
„Warte, Max!", ruft Jenny. „Wir kommen! Du kannst nicht nachts allein durch die Stadt laufen."
„Beeilt euch bitte", flehe ich und lege auf.

Während ich auf Jenny und Dominic warte, ziehe ich mich eilig an und durchsuche in meiner Verzweiflung noch einmal die gesamte Wohnung. Henry ist und bleibt verschwunden und ich mache mir unglaubliche Vorwürfe, dass ich eingeschlafen bin, dass ich ihn nicht doch geweckt und zumindest dazu gebracht habe, seine Medikamente zu nehmen, dass ich die Wohnungstür nicht abgeschlossen habe, dass-

Es klingelt an der Tür und ich renne aufgeregt hin, um sie zu öffnen.
„Henry?", frage ich atemlos, doch vor mir steht nur ein müde aussehender Dominic.
„Hast du eine Idee, wo er sein könnte?", fragt er mich und ich nicke fest entschlossen.

•••

Keine zehn Minuten später halten wir schon wieder vor dem Atelier. Alle Lichter des Häuserblocks sind aus, denn es befinden sich nur vereinzelt Appartements darin und um diese Zeit schlafen die meisten Menschen auch. Als hinge mein Leben davon ab, renne ich die Stufen nach oben und stoße die Tür zu Henrys Atelier auf. Ich kann mich nicht erinnern, sie heute Nachmittag abgeschlossen zu haben, aber vielleicht ist er auch hier?

Im Atelier sind ebenfalls alle Lichter abgeschaltet und ich rufe zaghaft Henrys Namen. Ein Windzug zauselt durch meine Haare und als ich mich nach links drehe, sehe ich, dass eines der großen Fenster, die sonst den Raum großzügig mit Tageslicht versorgen, weit geöffnet ist. Auf der Fensterbank steht Henry und blickt starr nach unten auf die Straße.

Mein Herz bleibt fast stehen und beinahe sofort bilden sich Tränen in meinen Augen. Mit zitternden Knien gehe ich langsam auf das Fenster zu und wispere: „Henry. Ich bin es. Max."
„Mein schöner Maxwell", seufzt Henry, sieht mich aber nicht an. „Ich suche Zanshin."
„Wen suchst du?", frage ich vorsichtig. „Vielleicht ist er in der Küche. Kommst du mit mir dort nachsehen?"

Henry lacht stumpf, doch es klingt nicht fröhlich. „Zanshin ist ein Zustand geistiger Wachheit. Bin ich das jetzt? Wach? Ich glaube schon."

Ich trete einen weiteren Schritt an ihn heran und strecke meine Hand nach ihm aus.
„Komm bitte zu mir, Henry", flehe ich. Er dreht sich zu mir und ich erkenne, dass seine Augen mit Tränen gefüllt sind.
„Ich bin so müde, Maxwell", weint er.

Wortschatz | ✓Where stories live. Discover now