Frisson

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Den gesamten Freitag verbringe ich mit Liam und Dominic in der Galerie. Auch der Besitzer, Mr. Larks ist am Vormittag da und verschafft sich einen Überblick. Er ist ein großer, eleganter Mann, der mir sofort Furcht einflößt mit seiner tiefen Stimme und seinem prüfenden Blick. Während er durch den Ausstellungsraum geht, sitze ich wie erstarrt an meinem kleinen Tisch, auf dem unzählige kleine, bunte Post-Its ausgebreitet sind und atme tief durch. Ich schließe meine Augen, stelle mir vor, ich liege mit Henry auf meinen warmen Badezimmerfliesen und alles ist gut.

Ich würde jetzt lieber mit Henry auf meinen Fliesen liegen, doch genau deshalb tue ich all das hier. Damit wieder alles gut wird.

Am Ende nickt Mr. Larks alles ab, bedenkt mich lediglich mit einem Nicken und verlässt die Galerie wieder, um am Abend dazuzustoßen. Kaum, dass er gegangen ist, greife ich mein sonnengelbes Julibuch und notiere meine Gedanken darin, um meinen Kopf wieder für meine eigentliche Aufgabe frei zu haben.

„Hey Max", kommt Dominic zu mir und lässt sich neben mir auf den Stuhl fallen. „Ich hab gerade mit Jenny telefoniert."
„Ist irgendwas mit Henry?", frage ich panisch und springe auf. „Soll ich kommen? Ist er okay?"
Dominic hebt beschwichtigend seine Hände und redet beruhigend auf mich ein: „Alles ist gut, Max. Er war wohl etwas unruhig, nachdem wir weg waren, aber sie haben sich Fotoalben von euch beiden angeschaut und dann wurde es besser."

Erleichtert atme ich auf, aber der dumpfe Schmerz in meiner Brust, den ich lange nicht mehr gespürt habe, ist wieder da. Wie ein Betonklotz drückt er auf meine Lungen und nimmt mir beinahe die Luft zum Atmen. Vermisst Henry mich? Denkt er, dass ich ihn allein gelassen habe?

„Hey", spricht der Freund meiner Schwester ruhig neben mir weiter. „Sie wollte nur wissen, wann sie heute Abend hier sein sollen. Wir haben sieben Uhr vereinbart. Ich denke, es ist gut, wenn die meisten Leute sich schon einen Überblick verschafft haben."

Ich nicke und reibe meine Hände nervös aneinander. Die meisten Leute. Daran hatte ich irgendwie nicht gedacht. Dass Leute hier sein werden. Nicht so viele wie eigentlich geplant, aber dennoch einige. Liam hat gesagt, er hat die ursprüngliche Gästeliste halbiert.

„Max?", kommt es wieder von Dominic. „Ich habe etwas vorbereitet und brauche deine Meinung dazu."
Fragend sehe ich ihn an und bekomme ein Blatt Papier mit einem Text von ihm gereicht.
„Können wir das so lassen?", möchte er von mir wissen und ich lese, was auf dem Blatt steht:

Liebe Gäste und Freunde der Galerie,

ursprünglich war dieser Abend anders geplant und sollte wie eine klassissche Kunstausstellung ablaufen.

Einem unglücklichen Umstand zufolge wurden jedoch sämtliche Werke unseres aktuellen Künstlers - Henry Page - zerstört und können nicht wiederhergestellt werden.

Ich, Maxwell Foster, bin der Lebensgefährte von Henry Page und möchte Ihnen das Talent meines Freundes dennoch nicht vorenthalten und habe aus diesem Grund in Zusammenarbeit mit der Galerie, die die Werke glücklicherweise fotografisch festgehalten hat, diese Alternativausstellung ins Leben gerufen.

Sie finden zu den einzelnen Bildern, die die Realität der ursprünglichen Werke zwar nur anreißen, auch Erklärungen von mir, die den Hintergrund oder die Inspiration des jeweiligen Kunstwerks verdeutlichen.
Henry Page ist nicht nur ein Meister der Kunst, auch Worte sind seine Leidenschaft und jedem seiner Werke liegt ein besonderes Wort zugrunde.

Ich hoffe, dieser Abend kann Sie dennoch begeistern und bereichern, so wie Henry es schon seit langer Zeit mit meinem Leben tut.

Vielen Dank und einen schönen Abend

Maxwell Foster
in Zusammenarbeit mit der Larks' Galerie

PS: Von direkter Ansprache an meine Person bitte ich abzusehen, alle Anfragen richten Sie bitte direkt an die Galerie.

Mit großen Augen sehe ich Dominic an und versuche, das Zittern meiner Hände zu kontrollieren.
„Nicht okay?", fragt Dominic zweifelnd und ich zucke mit den Schultern.
„Da steht mein Name darunter", wispere ich.
„Es ist auch in deinem Namen geschrieben, Max", lächelt er. „Es war deine Idee und auf diese Weise ist es außerdem noch persönlicher. Ich bleibe den gesamten Abend an deiner Seite, sollte dich jemand ansprechen wollen, und Liam kann es kaum erwarten, alle herumzuführen."

Ich presse meine Lippen fest zusammen und atme entschlossen durch.
„M-Meinst du, Henry wird-", beginne ich erstickt und Dominic nickt mit einem warmen Lächeln, ohne dass ich meine Frage vollständig ausformulieren muss.

•••

Um kurz vor sieben bin ich mein altes Vor-Henry-Selbst und quäle mich. Immer wieder muss ich dem Drang widerstehen, mich wimmernd in eine Ecke zu kauern, meine Arme um meine Beine zu schlingen und zu hoffen, dass dieser Abend ein Ende hat.

Dominic steht eisern lächelnd neben mir, nickt den vielen freundlichen, interessierten und überaus ruhigen Menschen nett zu und komplimentiert die wenigen, die doch neugierig an uns herantreten mit einem „Bitte wenden Sie sich an Mr. Brannigan für eventuelle Anfragen, vielen Dank" von uns fort.

Meine Hände nesteln nervös an einem der Post-Its, das noch übrig war, herum. Die Fotos von Henrys Werken sind allesamt mit jeweils einem dieser kleinen Klebezettel durch mich ergänzt worden. Auf ihnen steht das Wort, das Henry zu dem jeweiligen Wort inspiriert hat und eine Erklärung dessen. Die Worte und Erklärungen entstammen meinen Tagebüchern, denn wann immer Henry in unserer gemeinsamen Zeit ein Wort nannte, habe ich es notiert.

Auf dem kleinen grünen Zettel in meinen Händen steht:
Frisson - französisch für ein plötzliches Gefühl von Nervenkitzel, die Kombination von Angst und Aufregung

Henry würde mir den kleinen Zettel vermutlich an mein dunkelblaues Hemd oder gar an meine Stirn kleben, denn in diesem Moment bin ich das personifizierte Frisson. Oder ist es die Frisson?

Plötzlich öffnet sich die Glastür der Galerie und ich erkenne von weitem bereits Jennys schwarze Haare und dahinter einen sichtlich verwirrten Henry. Seine Augen huschen nervös durch den Raum und auf einmal bin ich mir ganz und gar nicht sicher, ob das Ganze eine gute Idee von mir war.

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