35. ~ „Bis dass der Tod uns scheidet!"

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... noch heute ...









Ludovico Einaudi - Una Mattina

Die kalte Brise erhascht mein Gesicht. Mich überkommt eine Gänsehaut, sodass ich fröstle. Ich stecke die Hände in die Hosentaschen und ziehe die Schultern hoch, damit die Kälte mich nicht mehr erwischt. Doch der zweite Windstoß erinnert mich nur daran, dass man vor nichts und niemanden weglaufen kann.
Vor allem nicht vor sich selbst.
Die Glocken läuten und ich höre wie die Tore unter mir geöffnet werden. Ich atme tief aus, sodass mein warmer Atem vor mir erscheint, einen Moment schließe ich die Augen und spüre den leichten Unterdruck, Prickeln und Zwicken an meiner seit Kindheit verhassten Narbe.
Manchmal, vor allem als Kind, habe ich mir immer gewünscht keine zu haben, denn sie erinnerte mich an das Schrecklichste in meinem Leben. Heute ist es anders.
Heute erinnert sie mich all das was ich hatte, was ich habe und hätte haben können.
Als ich die Augen wieder öffne erblicke ich meinen großen Bruder, Elijah, der sich zu mir hoch wendet. Auf dem Arm trägt er seine Tochter Claire und an seiner Seite steht Odette, ihre Mutter. Neben Odette bleibt ihre ihrer Schwester Ivette stehen. Sogar Lucas schaut zu mir hinauf. Ich richte mich wieder zu meinen großen Bruder, der seine Tochter hoch hievt und ich erkenne in seinem Gesicht einen Ausdruck, der mir, als wir noch Kinder waren, in Mark und Bein ging. Es ist der letzte Blick, den ich von ihm jemals erhaschen werde.
Thomas, mein Schwager tritt in mein Sichtfeld, sowie Theodore und Jaque, die ebenfalls zu mir hinauf blicken, auch wenn der nächste Windstoß ein wenig heftiger weht als zuvor. Ich muss man den Kleinen Ed denken, der mir wohl gerade ein Zeichen geben will, wenn sowas überhaupt möglich ist. Lord Cambridge zieht sich die Jacke enger, als er zu mir hinauf schaut, an seiner Seite Ethan mit seiner Verlobten, Laila. Ich kneife die Augen zusammen, als ich auch Kirsten mit ihrem Sohn Alexander erblicke. Ethan schüttelt den Kopf, als John sich zu ihnen gesellt. Doch er würdigt mich keines Blickes. Er starrt zu den Toren, aus diesen nun König Henry tritt, der mit ernsten Blick auch zu mir hinauf schaut.
Ich schaue über die Menschen, die auf seltsame Weise meine Familie geworden ist, die mich lieben - Menschen, die ich liebe.
Als meine kleine Schwester Melinda unten im Hof ankommt, muss ich den Blick schweren Herzens abwenden. Der Gedanke daran, dass ich meine Nichte oder meinen Neffen niemals kennenlernen werde, lässt mich noch mehr frieren.
Auch wenn ich es nicht will, mein Inneres zwingt mich dazu noch einmal hinunter zu blicken, es wird das aller letzte Mal für mich sein.
Sie können nicht länger hier bleiben, nicht am heutigen Tag - aus diesem Grund habe ich einen letzten Befehl veranlasst, alle nach England zu schicken, damit sie dort in Frieden leben können, ohne mich.
Doch, als ich auf die Menschen blicke, die mich überleben haben lassen, bemerke ich, dass diese mich gar nicht mehr anblicken. Sie schauen allesamt zwar zu mir nach oben, doch eher neben mich, als zu mir.
Ein weiterer Windstoß lässt mich zusammen fahren und ich wende widerwillig den Kopf, blicke zurück ins Gemacht.
Nur um sie zu sehen.
Sie steht in der Schwelle zu mir und schaut hinab. Jedoch bleibt mit kein Moment um sie ein letztes Mal zu betrachten, denn ihre Augen wandern zu mir und nehmen mich ein.
Diese hellen Augen, die seit einigen Tagen mir zu dunkel sind.
Augen - die mir ein Ja-Wort gegeben haben, Augen - die um ein Kind getrauert haben, Augen - die mich erblickt haben, als es kein anderer tat.
„Travis", ihre Stimme ist leise, angeschlagen und traurig.
Ich atme tief durch und nicke dann leicht, ehe ich die Menschen auf dem Hof hinter mir lasse und mich zu dem Menschen wende, für den ich alles geben würde - sogar mein Leben.
Wortwörtlich.
„Betty"

~

Meine Finger gleiten ein letztes Mal über die Tasten, ehe der Flügel zum erklingen droht. Ich halte einen Moment inne und versuche dieses Gefühl von Freiheit und Sicherheit einzusaugen.
„Das war wunderschön"
Ihre Stimme ist leise und bedacht. Ich schließe einen Moment die Augen und als ich sie wieder öffne steht sie am anderen Ende des Flügels und schaut mich an, sie schaut aus wie ein Traum, den ich mich nie gewagt habe zu träumen.
Meine Anabeth.
Meine Ehefrau.
Meine beste Freundin.
Meine Betty.
„Du bist wunderschön"
Sie legt den Kopf schief und entrinnt sich ein Lächeln, doch ich sehe in ihren Augen dass ihr ganz anders zu mute ist, also versuche ich es erneut und erhebe mich.
„Bitte, geh nach England", fehle ich verzweifelt.
Sie zieht den Kopf zurück und schüttelt ihn dann heftig. „Nein, das werde ich nicht tun. Bitte fang jetzt nicht davon wieder an"
Wütend kommt sie auf mich zu. „Es sind unsere letzten Stunden, wenn nicht sogar Minuten - ich will nicht mit dir streiten"
„Was willst du dann tun?", frage ich, um einen Moment zu vergessen, in welcher Lage wir uns gerade befinden. „Travis", ihre Stimme bricht ab.
„Nicht, du hast es mir versprochen"
Ich umfasse ihre Hand und küsse ihren funkelnden Ehering. „Keine Tränen, nicht hierfür"
Ich kneife die Augen zusammen, als sie sich zusammenzuraufen versucht.
Äußerlich scheint sie sich im Griff zu haben, doch ich weiß, dass sie innerlich am verbluten ist.
So wie ich äußerlich versuche den Anschein zu waren, doch mein Inneres verbrennt am lebendigen Leib.
Wie aus dem nichts klopft es plötzlich an der Tür zu unserem Gemacht.
„Nein", Anabeth schreit auf, als sich die Türe öffnet und Soldaten in das Gemach treten, ohne jegliche Rücksicht.
Es bleiben uns wohl nicht mal mehr Minuten.

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