44 | Lila Scheine

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Höflichkeit und Manieren waren etwas für dekadente Wichser, die teuren Champagner tranken und sich darauf abfeierten, wieviel Geld sie auf ihrem Konto ruhen hatten. Und doch hob ich meine Hand und klopfte zweimal fest gegen die Tür, hinter der sich das Schlafzimmer meiner Mutter verbarg.

»Ja?«, erklang ihre Stimme über die Fernsehgeräusche hinweg. Ein wenig fragend, weil sie nicht damit rechnete, dass einer von uns beiden zu ihr reinguckte. Passierte sonst auch nie.

Ich trat ein.

»Hey.« Ich räusperte mich und lehnte mich gegen den Rahmen. Absolut keine Ahnung, wie lange es her war, dass ich das letzte Mal in ihrem Zimmer gewesen war. Es war der kleinste Raum unserer Wohnung, in dem nicht viel mehr Platz fand als ein breites Bett und ein Kleiderschrank.

Auch Tommy war da, auf dessen Bulldogfresse ein genervter Ausdruck auftauchte, nachdem er mich entdeckt hatte.

»Jonathan!« Meine Mutter hob ihren Blick und wirkte genauso überrascht, wie ich es erwartet hatte. »Was gibt's denn?«

Es roch nach Mandarinen, Zigarettenrauch, Zimtkeksen und ein wenig auch nach miefiger Heizungsluft. Auf dem Fernseher lief Werbung von Sachen, die sie sich ohnehin nie leisten könnte. Keiner der beiden achtete sonderlich darauf. Tommy hielt ein dickes Buch zwischen seinen Wurstfingern und hielt sich dadurch wohl für besonders intellektuell, meine Alte dagegen war ganz mit dem Katzenvieh beschäftigt, das sich in ihrem Schoß zusammengerollt hatte. Liebevoll kraute sie es im Nacken. Überall auf der Bettdecke lagen Katzenhaare verteilt, daneben Mandarinenschalen und ein paar dreckige Teller.

Ich ignorierte meine Mutter und sah Tommy an. »Verpiss dich mal«, herrschte ich ihn an, in meiner Stimme eine offene Drohung. Der Hurensohn sollte doch endlich gecheckt haben, dass es besser war, sich nicht mit mir anzulegen.

»Ach, sind wir wieder dabei, Befehle zu geben?«, spottete er und blätterte eine Seite um. Auf dem Cover war eine hässliche Gestalt abgebildet, die ich dem Genre Horror zuordnete. Als ob dieser Spast ernsthaft las. Das war mal richtig erbärmlich.

»Bitte, Tommy«, forderte die Alte ihn mit sanfter Stimme auf. Ich verstand nicht, wie sie gegenüber diesem Typen Liebe empfinden konnte. »Lass uns kurz allein, ja?«

Tommy stöhnte genervt. »Dass du dem auch immer so in den Arsch kriechen musst. Keine Wunder ist der so drauf, der ist einfach nur zu verwöhnt.«

Ich lehnte mich mit verschränkten Armen in den Türrahmen und hörte der Diskussion zwischen den beiden zu. Konnte ja nur lustig werden.

»Er ist aber mein Sohn, verstehst du? Das ist meine Angelegenheit.« Auffordernd deutete sie in Richtung des Flurs.

Tommy drückte sich schwerfällig aus dem Bett hoch und schob sich an mir vorbei. Während sein Bierbauch mit den letzten Jahren größer geworden war, hatte ich mehr und mehr Muskeln aufgebaut. Mich nicht nur im Training behauptet, sondern auch oft genug auf der Straße und wusste, wie ich mit meinem Messer umzugehen hatte. Im Gegensatz zu früher wäre es für mich ein leichtes gewesen, ihn so zu zerstören, dass er grundlegendste Fähigkeiten wie Essen oder Sprechen wieder erlernen müsste. Und das war ihm auch klar.

Das sah ich an der Art, wie er mich musterte und nach einem drohenden Blick von mir auf einen weiteren dummen Spruch verzichtete.

»Ja?« Die Alte sah mich fragend an, während sie ihre Kippe zu den Lippen führte und tief inhalierte. Ein wenig bewegte sie ihre Mundwinkel nach oben, ein unscheinbares Lächeln in ihrem müden Gesicht. Freute sie sich, dass ich da war?

Wahrscheinlich schon.

Irgendwie war das seltsam.

Alles an dieser Aktion fühlte sich seltsam an. Ich hatte nie jemand sein wollen, der etwas für andere tat und doch hatte es sich so unfassbar beschissen angefühlt, den überforderten Blick meiner Alten zu sehen, die Angst vor der Zukunft in ihrer Stimme zu hören. Die unbezahlten Rechnungen und die Tatsache, dass sie einen ihrer Putzjobs nicht mehr machen konnte, weil ihr Boss sie gekündigt hatte.

Die Verlierer - Sklaven des ErfolgsWhere stories live. Discover now