15 | River

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Unsere Vergangenheit könnte nicht gegensätzlicher sein und dennoch ist sie sich so ähnlich.
Seine Worte gehen mir nicht mehr aus dem Kopf.
Hat er Recht damit?
Hat mich Nikan so durchschaut?
Ist ihm vor mir selbst aufgefallen, wer ich wirklich bin?
Es war schon merkwürdig, dass ich so offen über meine Vergangenheit erzählen konnte. Selbst Freja und Olivia habe ich erst vor einigen Monaten erzählt, was passiert ist. Aber ihnen und auch Nikan habe ich nicht alles offenbart. Auch mit Mara habe ich über einige Dinge nie wieder gesprochen. Es fällt mir leichter sie zu ignorieren und zu vergessen. Sie sind nicht mehr Teil meines Lebens.
Oder doch?
Seit dem Gespräch vorhin sehe ich wieder Dinge vor mir, die ich dachte längst vergessen zu haben.
Ich will nicht mehr darüber nachdenken.
Angestrengt versuche ich mich auf meine Hände zu konzentrieren, die den Faden von einer Seite zur anderen des Weidenrings flechten. Ich habe mir vorhin von der Weide einen dünnen Ast genommen und ihn jetzt zu einem Kreis geformt, den ich mit etwas Schnur fixiert habe. Als Nikan mir das Gelände gezeigt hat, sind wir auch am Hühnerauslauf vorbeigekommen und ich habe mir einige der umherfliegenden Federn geschnappt. Am Ende kommt hoffentlich ein schöner Traumfänger zu Stande, den ich dann in mein Fenster hängen kann. Ich habe meinen aus meinem alten Zimmer leider vergessen.

Wie von selbst wandern meine Gedanken wieder in andere Welten. Ich sitze auf der Veranda und halte meine Blick gesenkt auf meine Hände, die den Faden in dem Weidenkreis spannen.
Ein paar der Jungs spielen sich einen Ball zu, doch das bekomme ich nur am Rand mit.
Meine Gedanken sind wo ganz anders.

Ein Ort, den ich schon vor langer Zeit verlassen habe. Die Hitze ist unerträglich und auch der Deckenventilator ist keine große Hilfe. Im Gegenteil, er verteilt die unangenehme Luft im gesamten Raum. Ich darf seit etwa drei Monaten auf eine Menschenschule gehen. Meine Sinne sind gereizt und überflutet. Ich lenke mich also mit meinen Buntstiften ab und male unerkennbare Figuren auf ein weißes Blatt. Eigentlich fühle ich mich dafür viel zu alt, doch es ist das Einzige das hilft, um die ganzen Dinge zu verarbeiten, die ich in der Schule sehe, rieche und höre. Ganz automatisch, ohne darüber wirklich nachzudenken, summe ich ein Lied vor mich hin.

Das Folgende ist zu schmerzhaft. Ich will mich nicht daran erinnern.
Aber meine Gedanken sind unaufhaltsam und weil es so geschmerzt hat, kann ich mich noch genau daran erinnern, obwohl ich es bisher gut verdrängen konnte.

Ich merke ein schmerzhaftes Ziehen an meiner Kopfhaut. Sofort steigen mir Tränen in die Augen und ich bin verwirrt, was gerade passiert.
Ich werde an die Ecke des Zimmers geschleudert und sehe meinen Vater über mir.
Er schreit mich an und bevor ich nur ein Wort von dem, was er mir entgegen brüllt, verstehen kann, landet seine Hand auf meiner Wange und mein Kopf fliegt zur Seite.
Die ersten Tränen laufen mir über die pochende Wange, über die ich schützend meine Hand halte.
Und dann verstehe ich die Worte meines Vaters.
Es ist das Lied!
Das Lied, das ich gesummt habe.
Ich habe es wohl in der Schule gehört.
Ein Fehler von mir, denn natürlich hat mein Vater erkannt, dass es keines der zugelassenen Lieder unseres Rudels ist. Es ist ein menschliches Lied.
Absolut verboten.
Seine Hand umfasst meinen Arm und er zerrt mich schmerzhaft nach oben. Alles geschieht so schnell. Ich kann ihm nicht einmal hinterher laufen und werde einfach über den staubigen Boden gezerrt. An jeder Ecke und Kante stoße ich mich. Bekomme blaue Flecke, die man noch Tage später sehen wird und lande unsanft in dem Zimmer, das sich meine Schwester und ich teilen.
Mir wird verboten für den Rest des Tages zu sprechen.
Essen bekomme ich erst am Morgen, wenn ich unsere Rudelgesetze fehlerfrei aufsagen kann.
Und zur Schule darf ich auch erst zwei Wochen später, als man die blauen und grünen Flecke nicht mehr erkennen kann.

MoonshadowWhere stories live. Discover now