37 | River

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So unsagbare Hitze hat von mir Besitz ergriffen. Mein Blut kocht und das nicht, weil Nikan und ich wie die vergangene Nacht wahrhaftig Liebe machen. Nein, ich bin wütend. Wütend auf Henry, weil er so eine Bedingung für den Vertrag überhaupt fordert. Wie trocken er diese Worte rübergebracht hat. Als hätten sie keinen Einfluss, keine Bedeutung. Aber das haben sie. Ich bin so verdammt wütend. Auch auf Nikan, weil er Henry nicht gesagt hat, dass er sich seine Forderung sonst wo hinstecken kann. Ich verstehe, dass er an alle denken muss, dass es das ganze Rudel betrifft. Aber im Augenblick möchte ich nicht verstehen. Ich möchte einfach nur wütend sein, weil es mich davon abhält nachzudenken, welche Konsequenzen unsere Entscheidungen haben können. Werde ich schon wieder meine Familie verlieren? Was wird das Rudel sagen, wenn ich gegen sie stimme? Werden sie mich nicht mehr hier haben wollen? Muss ich mich zwischen ihnen entscheiden?
Tränen steigen in mir auf und ich weiß nicht, ob es an meiner Wut oder den rasenden Gedanken über die Folgen unserer Entscheidungen liegt.
Seit wir wieder zurück sind, hat Nikan kaum ein Wort mit mir gesprochen. Insgesamt ist es still. Wir warten darauf, dass die anderen zurückkommen und wir gemeinsam über die neusten Entwicklungen sprechen können.
Atlas ist bei Dean und Luke, die uns Zeit geben wollen, als Rudel eine Entscheidung zu treffen.
Olivia hat ähnlich wie ich reagiert, als sie gehört hat, was Henry fordert. Überrascht, empört und wütend. Wir dürfen das einfach nicht tun.
Nikans Hand liegt auf meinem Oberschenkel und versucht mich durch sanftes Streicheln zu beruhigen, doch das Blut rauscht in meinen Ohren und insgesamt nimmt die Wut viel zu viel Platz in mir in Anspruch, dass ich seine Berührungen kaum spüre.
Nach und nach betreten Clayton, Antonio, Mato, Len und Noah das Wohnzimmer. Alle tragen sie den gleichen Gesichtsausdruck, nachdenklich die Augenbrauen zusammengezogen und ratlos in die Luft starrend. Clayton muss ihnen also auch bereits mitgeteilt haben, was Henry verlangt.
Nachdem alle ihren Platz gefunden haben, entweder auf dem Sofa, einem Sessel oder am Boden auf dem Teppich, räuspert sich Nikan und holt somit auch mich aus meiner starren Haltung.
„Nachdem nun alle Bescheid wissen, müssen wir überlegen, wie wir mit dieser Forderung umgehen."
Er drückt meinen Oberschenkel, vielleicht um mir zu zeigen, dass er auf meiner Seite steht. Doch im Augenblick herrscht in mir so ein Chaos, dass ich Nikans Gesten nicht deuten kann.
„Wir haben Familie im Redbone Rudel", merkt Olivia an, die mittlerweile um einiges ruhiger zu sein scheint als ich.
„Ihr werdet auch immer noch Familie dort haben, wenn die Allianz nicht mehr mit Silver besteht", versucht Ian sie zu beschwichtigen, legt einen Arm und sie und drückt sie an sich und auch wenn es stimmt, bin ich mir nicht sicher, ob es dann noch so einfach sein wird, sie zu sehen.
„Wenn ich das richtig verstehe, war das Henrys einzige Forderung. Wenn wir der nicht nachgehen, wird es dann wieder Angriffe geben?" Antonios Frage ist legitim und dennoch kann ich keinen klaren Kopf fassen und ihm zustimmen.
„Wir könnten versuchen um etwas anderes zu verhandeln", schlägt Mato vor.
„Henry wird sich nicht von seiner Idee abbringen lassen", antwortet Clayton und spielt nachdenklich mit den Fingern an seiner Unterlippe.
„Warum will Henry überhaupt, dass wir unsere Verbindungen zu Silver kappen?" Eine rhetorische Frage von Jesper, die er sogleich selbst beantwortet. „Es ist klar, dass er uns als Bedrohung ansieht und mit Silver im Rücken - nicht das es uns in der Vergangenheit viel gebracht hat - sind wir noch stärker. Er will unsere Stärke für sich beanspruchen."
„Er will aber nur, dass wir die Allianz mit Silver aufgeben, nicht dass wir eine mit ihm eingehen", erinnert Nikan.
„Wenn genau das so später im Vertrag steht, bin ich dafür", beschließt Mato und ich hebe stutzig eine Augenbraue. „Wir wären an kein anderes Rudel gebunden und schutzlos wären wir auch nicht. Allianz hin oder her. Wir haben Freunde, die nur einen Anruf entfernt wären, um an unserer Seite zu kämpfen. Wenn Henry das Kriegsbeil begraben möchte, gibt es niemanden mehr, der uns bedroht. Wir wären frei."
Auch wenn das alles logisch klingen mag, kann sich mein Verstand nicht mit der Idee anfreunden, meine Familie nicht mehr zu sehen.
„Wenn wir sicher gehen, dass Henry nichts weiter von uns verlangt, dann klingt das gar nicht so schlecht", stimmt auch Noah zu.
„Ihr seid also alle dafür?", frage ich leise und es sind die ersten Worte, die ich seit dem Treffen mit Henry spreche.
„River, wir überlegen nur laut, machen uns Gedanken, was dafür und dagegen spricht", versucht mich Clayton zu beruhigen, denn auch er scheint mitzubekommen, dass es in mir brodelt.
„Schau mal, ich finde es auch nicht so großartig", beginnt Olivia. „Aber wenn das eine Möglichkeit für Frieden bedeutet, dann klingt es doch gar nicht so schlecht. Wir können unsere Familien immer noch besuchen." Ihre grünen Augen schauen mich aufrichtig an.
Doch ich kann nur den Kopf schütteln. Egal wer etwas zu mir sagt, was er sagt, es kommt nicht bei meinem Verstand an. Tränen steigen erneut in meine Augen und ich fühle mich gefangen.
„Ich brauche einen Moment", flüstere ich und löse mich von Nikans Seite, stürme aus dem Raum und renne in unser Schlafzimmer.
Dort angekommen bricht alles in mir los. Tränen rollen unnachgiebig über meine Wangen.
Alles beginnt von vorne. Ich werde sie verlieren. Meine Familie. Meine Schwester. Silver. Dean. Freja. Alle Freunde im Rudel.
Ich kann das nicht. Nicht schon wieder.
Alles dreht sich. Meine Gedanken. Der Raum.
Ich bekomme keine Luft.
Angespannt versuche ich ein- uns auszuatmen. Immer wieder versuche ich es. Versuche Luft in meine Lungen zu pressen, doch vergebens. Ich ertrinke. So viel Luft, doch keine für mich.
„Hey, hey."
Ich habe gar nicht bemerkt, dass Nikan den Raum betreten hat. Er zieht mich in seine Arme und streichelt mir über die Haare und den Rücken.
„Ich kann sie nicht verlieren", schluchze ich unter Tränen, während ich immer noch angestrengt versuche, irgendwie Luft zum Atmen zu bekommen. Meine Sicht ist verschwommen und ich kann nur Nikans schwarzes T-Shirt vor mir sehen.
„Du wirst sie nicht verlieren, das verspreche ich dir." Er wischt meine Tränen von den Wangen, doch immer wieder kullern sie aus meinen Augen.
„Hey River, hör mir zu. Du wirst sie nicht verlieren", sagt er erneut, aber mit mehr Kraft in der Stimme. „Und jetzt versuchen wir gemeinsam zu atmen." Er nimmt meine Hände und legt sie sich auf die Brust, damit ich seine Atmung unter meinen Handflächen spüren kann.
„Ein." Ich spüre, wie sich sein Brustkorb hebt und versuche es ebenfalls.
„Und aus." Ich versuche es weiter, doch es gelingt nicht.
„Nochmal. Ein und aus."
Nikan atmet so lange gemeinsam mit mir, bis sich der Druck auf meinen Lungen löst und ich erschöpft feststellen muss, dass ich tatsächlich Schmerzen in der Brust spüre.
„Ich kann sie nicht verlieren", kommt es mir niedergeschlagen über die Lippen.
„Wirst du nicht", versichert er mir erneut und zieht mich auf seinen Schoß, nachdem er sich aufs Bett setzt und verteilt Küsse auf meiner Stirn. „Wir finden eine Lösung."
Er beginnt mich in seinen Armen hin und her zu wiegen. Das und seine Körperwärme sorgen dafür, dass meine Lider schwerer werden.
Ich bin so erschöpft, so müde.

Als ich aufwache ist es im Zimmer dunkel. Wie lange habe ich geschlafen?
Meine Hand wandert zu der Stelle neben mir, doch sie ist kalt. Nur Nikans Geruch verweilt im Raum. Er muss eine Decke über mich gelegt und meine Jeans ausgezogen haben. Denn ich liege nun gemütlich und warm eingepackt in unserem Bett.
Die Ereignisse von vor wenigen Stunden prasseln auf mich ein. Henry. Das Treffen. Meine Panikattacke. Ich hatte seit zwei Jahren keine mehr. Damals haben sie angefangen als Mara und ich im Redbone Rudel angekommen sind. Aber sie haben sich schnell gelegt, als mir bewusst wurde, dass wir sicher sind. Nur die Albträume sind geblieben und selbst die haben sich nach einiger Zeit gelegt.
Ein Klopfen ertönt an der Tür und wenig später sehe ich einen lila Haarschopf.
„Komm rein."
„Ich bringe dir eine Tasse Tee", informiert sie mich sanft lächelnd und hält besagte Tasse in die Höhe.
„Danke." Ich nehme ihr die dampfende Tasse ab und stelle sie neben mir auf den Nachtschrank. „Wie spät ist es?"
„Kurz nach zehn", antwortet sie und legt sich neben mir auf das Bett.
Ich habe über zwölf Stunden geschlafen. Meine nächtlichen Aktivitäten waren bestimmt nicht unschuldig daran, dennoch weiß ich, dass mich das Treffen mit Henry und alles was danach geschehen ist mehr ausgelaugt hat.
„Wie geht es dir?", fragt Olivia und schaut mich mit ihren moosgrünen Augen besorgt an.
„Besser. Ich weiß auch nicht, was passiert ist. Ich habe daran gedacht, wie es damals war. Wie schnell alles gegangen ist, dass mich Mara in der Nacht geweckt hat und wir verschwunden sind." Ich lege die Stirn in Falten, weil mich diese Gedanken nicht loslassen wollen.
„Mir macht es auch Angst", gesteht mir meine Freundin. „Aber das Rudel ist nun auch meine Familie - unsere Familie - und ich möchte nicht, dass es den Jungs schlecht geht. Ian hatte schon recht, dass unsere Entscheidung nicht bedeuten muss, dass wir den Kontakt zum Redbone Rudel verlieren."
Ich nicke verstehend und zum ersten Mal kommen diese Worte auch tatsächlich in meinem Kopf an. Meine Schwester und Sitka sind immer noch da. Silver, Dean und Freja werden immer zu meiner Familie gehören.
„Silver ist nicht mehr unser Alpha", erinnert mich Olivia und ich nicke erneut verstehend.
Es wird still für eine Weile bis ich frage: „Hab ich vorhin eine Szene gemacht?" Mein Gesicht verzieht sich zu einer Grimasse, weil es mir unangenehm ist.
Aber Olivia lacht nur und antwortet: „Nein, mach dir keine Sorgen. Alle verstehen deine Angst."
„Okay", flüstere ich beruhigt und erneut legt sich eine Stille über uns.
„Also du und Nikan. . .", sie lässt den Satz offen stehen und ich schaue breit grinsend zu ihr rüber.
Automatisch wandert meine Hand zu dem kleinen Mal an der linken Seite meines Halses. Ich zucke zusammen, bin noch überrascht, wie empfindlich diese Stelle reagiert, doch begrüße auch das wohlige Gefühl, das sich in mir ausbreitet.
„Es war wunderschön", beginne ich zu erzählen und lasse die letzte Nacht Revue passieren.
„Erzähl, ich will alles wissen", fordert sie, stützt ihren Kopf auf einem Arm ab und schaut mich abwartend an.
„Er hat mich zu einer Stelle im Wald gebracht. Mit Decke, Kissen und Kerzenschein. Sehr romantischt." Das Lächeln möchte nicht von meinen Mundwinkeln verschwinden. „Es hat alles ganz harmlos angefangen, bis mir plötzlich rausgerutscht ist, dass er mich markieren soll."
„Nein?" Olivia schaut überrascht auf mich runter, doch muss selbst breit grinsen.
„Doch", bestätige ich ihr und erzähle ihr von unseren gestrigen Ereignissen. Wie aufmerksam und vorsichtig Nikan war. Wie schön es sich für mich angefühlt hat. Wie schwer es mir fällt, die Finger von ihm zu lassen, was Olivia im Bezug auf Ian bestätigen kann. Wir reden lange. Kommen von einem Thema zum nächsten und ich bin dankbar, dass sie mich ablenkt.

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