13 | River

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Ich weiß nicht, wie ich meine Überraschung in Wort fassen soll. Jetzt stehe ich hier, in meinem eigenen Zimmer. Nikan hat mir tatsächlich ein eigenes Zimmer einrichten lassen. Es ist zwar nicht mein altes Zimmer, aber trifft meinen Geschmack sehr genau. Zugegeben, Nikan hat viele Stunden in meinem Zimmer verbracht, da konnte er sich anschauen, was mir gefällt.
Anders als jedoch bei meinem alten Zimmer, wo das Bett gegenüber der Tür stand, umrahmt von zwei bodentiefen Fenstern, steht das Bett nun direkt links, wenn man den Raum betritt. Es ist ein einfaches Bettgestell aus Holz, dass jemand weiß gestrichen hat. Über dem Bett an der Wand befindet sich ein Bild, das verschiedene Blumen mit ihrem wissenschaftlichen Namen zeigt. Bezogen wurde das Bett mit einer salbeigrünen Bettwäsche. Momentan befindet sich jedoch mein Koffer und der Karton mit Büchern darauf, die Nikan eben noch hochgetragen hat. An der Wand daneben steht eine alte weißlackierte Komode mit einem Spiegel darüber. Schaut man weiter, erkennt man ein Fenster, das hinter sandfarbenen Vorhängen versteckt ist und angrenzend daran steht ein kleiner Schreibtisch mit Stuhl, ebenfalls alles in weiß gehalten.
Gegenüber des Bettes an der Wand steht ein großes Bücherregal. Momentan ist es noch leer und auch meine mitgebrachten Exemplare werden dieses Regal nicht füllen können, doch ich freue mich schon darauf neue Bücher zu kaufen und sie dort zu platzieren. Neben dem Regal, in der Ecke, steht ein dunkelgrüner Sessel mit Stehlampe. Der perfekte Ort, um Bücher zu lesen. Unfassbar, dass Nikan an all das hier gedacht hat.
Zu guter Letzt steht an der selben Wand, in der sich die Tür befindet, ein Kleiderschrank.
Ich weiß wirklich nicht, was ich dazu sagen soll. Allein schon die Tatsache, dass Nikan bewusst ist, dass sich das zwischen uns langsamer entwickeln wird, als ihm vermutlich lieb ist, er es akzeptiert und mich zu nichts drängt.
Ich bin sprachlos.
Es ist richtig. Ich weiß, dass ich nicht so überrascht sein sollte, wenn jemand nach moralischen Grundsätzen handelt, doch gelegentlich vergesse ich, dass die Welt ein guter Ort sein kann und ich mein altes Leben hinter mir gelassen habe.
Wahrscheinlich wird es eine Nacht dauern, bis ich mir im Klaren bin, was heute alles passiert ist. Bis ich mich hier richtig zu Hause fühle, wird noch länger dauern, doch das hier macht es mir wesentlich leichter.

Am nächsten Morgen wache ich ausgeruht auf. Die Nacht in meinem neuen Bett war entspannt und lang. Ich habe Schlaf dringend benötigt, nach der doch recht kurzen Nacht nach der Zeremonie.
Ich muss mich erst einmal aufsetzen, um richtig zu realisieren, wo ich mich befinde. Alles ist so neu und unbekannt, doch mein Zimmer fühlt sich ein bisschen nach Zuhause an.
Apropos! Mir fällt auch auf, dass es die erste Nacht seit langem war, in der Nikan nicht mit mir im selben Raum war. Er war nicht bei mir und hat auf dem Sessel geschlafen. Richtig einschätzen kann ich nicht, wie ich das finden soll. Ich habe mich bereits so sehr an seine Anwesenheit gewöhnt, dass es merkwürdig ist, ihn nicht um mich zu haben.
Aber Gedanken machen kann ich mir darüber, wenn ich etwas gegessen habe.
Jespers Auflauf gestern Abend war zwar köstlich, doch viel essen konnte ich um diese Uhrzeit nicht.

Nachdem ich mich umgezogen und frisch gemacht habe, finde ich meinen Weg zurück in die Küche.
Das Haus ist nicht groß, aber größer als das in dem ich die vergangenen zwei Jahre gewohnt habe. Hier ist ebenfalls alles aus Holz und ähnlich gemütlich eingerichtet.
"Guten Morgen", begrüße ich die vier Anwesenden lächelnd.
Clayton hatte mich ihnen gestern vorgestellt, doch erst bei dem gemeinsamen Essen, konnte ich mir ihre Namen richtig merken. Sie haben alle eine netten ersten Eindruck auf mich gemacht. Ich konnte außerdem spüren, dass Nikan nicht der einzige Alpha in diesem Rudel zu sein scheint. Es ist kompliziert zu erklären, aber unter all diesen neuen Gerüchen, konnte ich nicht ausmachen wer von ihnen es sein könnte. Das muss schwierig sein mit mehreren Alphas in einem Rudel zu leben. Normalerweise wird man deshalb verstoßen oder unterdrückt, aber hier scheint es zu funktionieren.

Im Augenblick sitzen Antonio, Noah, Mato und Jesper am reich gedeckten Tisch.
Sie wünschen mir ebenfalls einen guten Morgen und entgegnen mir mit einem ebenso freundlich Lächeln.
"Was willst du essen?", möchte Jesper wissen und zählt dann auch schon auf, was ich vor mir auf dem Tisch stehen sehe. "Ich habe Eier und Speck gebraten. Wir haben noch frisch gebackenes Brot und selbstgemachte Erdbeermarmelade vom letzten Sommer. In der Schüssel befindet sich Obstsalat und wir haben im Kühlschrank noch Joghurt."
Offensichtlich ist Jesper für die Küche zuständig. Vielleicht können wir heute etwas gemeinsam für die anderen kochen. Ich habe es immer genossen und Mara und Sitka haben sich auch nie über meine Gerichte beschwert.
"Ich denke, ich nehme was von den Eiern", antworte ich und setze mich an den Tisch neben Mato.
"Kommt sofort." Jesper erhebt sich von seinem Platz, um von der Herdfläche die Pfanne mit den Eiern zu nehmen und mir etwas davon auf den Teller zu schieben.
"Was möchtest du trinken?", fragt Noah und zählt ebenfalls meine Möglichkeiten auf. "Orangensaft? Kaffee? Milch? Tee?"
"Tee wäre schön", antworte ich zögerlich und verlegen. Dass sie sich so um mich kümmern ist mir ein wenig unangenehm. Ich könnte mir alles selbst nehmen, doch da ich mich in dieser Küche nicht auskenne, muss ich wohl meine Verlegenheit beiseite schieben und mich bedienen lassen.
Ich bedanke mich bei Noah, nachdem er mir die dampfende Tasse reicht und widme mich dann meinem Frühstück. Auch die vier essen weiter, doch es bleibt nicht lange still.
"Woher kommst du ursprünglich? Nikan hat erwähnt, dass du noch nicht lange im Redbone Rudel gelebt hast", möchte Antonio wissen und beißt genüsslich von seinem knusprigen Steifen Speck ab.
"Williams Rudel im Süden des Landes", antworte ich knapp und schaue auf meinen Teller. Das ist vielleicht nicht das beste Thema zum frühen Morgen. Aber ich kann es verstehen. Sie wollen mich kennen lernen, genauso wie ich sie kennen lernen möchte. Irgendwann würde das Thema aufkommen und ich möchte meine Vergangenheit schließlich nicht verheimlichen.
"Sagt mir nichts" Antonio überlegt angestrengt und nimmt erneut einen Bissen von seinem Speck.
"Mir schon", meldet sich Mato neben mir zu Wort und in seinen grünen Augen kann ich etwas erkennen, dass mir nur allzu bekannt ist. Der Schmerz der Erinnerungen.
"Du kommst auch aus dem Süden?"
"Ja, Deep South", antwortet er knapp und grinst mich schief an.
"Dann waren wir quasi Nachbarn", scherze ich und versuche damit die aufkommende unangenehme Stimmung wieder zu heben.
"Kann man so sagen. Vielleicht sind wir uns schon einmal begegnet."
"Möglich wäre es."
So unwahrscheinlich ist es tatsächlich nicht. Sein Rudel hatte ihr Territorium südwestlich von unserem. Vielleicht waren wir bei einer der Zeremonien oder anderen Feste anwesend. Doch da sind immer so viele Leute, dass mir sein Gesicht nicht bekannt vorkommt.
"Übrigens muss ich mich bei euch für das schöne Zimmer bedanken!"
"War doch selbstverständlich", antwortet Jesper und zwinkert mir zu.
"Hat uns ganz schön umgehauen, dass du Nikan nicht in dein Bett lassen willst", ergänzt Noah und bekommt promt einen Ellenbogen von Antonio, der neben ihm sitzt, in die Rippen. "Was? Ist doch wahr?", beschwert er sich und schlägt Antonio zurück auf die Schulter.
"Sie ist eben noch nicht so weit", meldet sich auch Jesper zu Wort und trinkt einen Schluck aus seiner Tasse.
"Ist schon gut." Lachend schüttel ich den Kopf und nehme ebenfalls einen Schluck von meinem Tee, bevor ich weiter rede: "Jesper hat Recht, ich bin noch nicht bereit, mich auf irgendetwas einzulassen. Ehrlich gesagt, habe ich Angst zu versagen. Ich weiß, wie es um euer Rudel steht und jetzt habt ihr bestimmt Erwartungen. Erwartungen, die ich vielleicht nicht erfüllen kann."
Ich weiß nicht, warum ich auf einmal offen zu gebe, wie es in mir aussieht. Vielleicht, weil ich bereits damit angefangen habe, als ich Nikan die Wahrheit erzählt habe? Vielleicht, weil ich mich erstaunlich wohl hier fühle? Wir essen immerhin gemeinsam, wie eine richtige Familie. Sie haben für mich sogar ein eigenes Zimmer eingerichtet. Die Wahrheit bin ich ihnen schuldig.
Für einen kurzen Moment ist es still und alle schauen sich abwechselnd an, als würden sie eine Konversation führen, für die es keine Worte braucht. Jetzt bin ich doch verunsichert.
Habe ich etwas falsches gesagt?
Ich wende meinen Blick also ab, doch schaue gleich wieder auf, als eine Hand kurz beruhigend über meinen Rücken streift. Mato, neben mir, schenkt mir einen warmen Blick und sagt dann: "River, du brauchst dir keine Sorgen machen. Niemand hier erwartet irgendetwas von dir. Wir sind uns bewusst, dass du erst neunzehn Jahre alt bist, ich kann fast noch den Welpen an dir riechen. Genau, wie bei Noah." Er wirft dem blondharigen ein freches Grinsen entgegen, der dieses mit einer Grimasse erwidert und sagt dann weiter: "Keiner erwartet also von dir, dass du schon Erfahrung in der Rudelführung hast oder geschweige denn uns in den nächsten paar Jahren Zuwachs versicherst. Diesen Druck haben wir hier nicht. Das sind alte Traditionen und Bräuche, wegen denen wir unteranderem geflohen oder verstoßen wurden. Lehn dich entspannt zurück, lebe dich ein und finde heraus, was du wirklich willst."
Mein Blick schweift von Mato zu Antonio, dann zu Noah und zu Letzt zu Jasper, der mir vergewissernd zunickt.
Es macht mich sprachlos. Ich dachte die ganze Zeit über, dass ich hier bin, um sie vor einer bevorstehenden Niederlage zu bewahren. Das ist schließlich das, was ich immer gehört habe. Aber ich bin wohl selbst schuld. Ich habe nichts auf die Gerüchte gegeben und insgeheim haben sich doch Vorstellungen in mein Gehirn geschlichen, wie ich nun mein Leben gestalten soll. Nie hat jemand zu mir gesagt, was von nun an von mir erwartet wird. Ich allein war diejenige, die diese Hirngespinnste geglaubt hat.
"Okay", antworte ich also mit einem erleichterten Lächeln und füge noch hinzu: "Jetzt, hätte ich gerne noch mehr von den Eiern."
"Bekommst du sofort", antwortet Jesper lachend und steht erneut auf, um mir etwas von den Eiern auf den Teller zu schieben.
Lachend und ungezwungen unterhalten wir uns weiter, bis mir einfällt, dass wir nicht vollständig sind.
"Wo sind eigentlich die anderen?"
"Len, Clayton und Nikan sind vorhin los, um nach Holz zu gucken für einen größeren Tisch. Ian und Olivia wollte sie begleiten und dann ein bisschen das Gebiet erkunden", klärt mich Jesper kurz auf.

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