2 | Nikan

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Das Knacken der dünnen Äste auf dem feuchten und mit Moos bedeckten Waldboden ist noch zu hören, als ich sie bereits hinter mir gelassen habe und erneut auf einen weiteren Ast trete. Das Blut rauscht durch meine Körper und vermischt sich mit dem Adrenalin. Fast fühlt es sich wie fliegen an. Meine Pfoten berühren nur kurz den Boden, bevor sie ihn wieder verlassen, um in der Luft zu schweben. Vor einiger Zeit habe ich begonnen zu rennen. Ich brauche ein wenig Ablenkung und da erschien mir nichts besser geeignet zu sein, als an den Grenzen unseres Territoriums entlang zu laufen. Irgendwann habe ich einfach begonnen zu rennen.
Die Äste zischen an mir vorbei und streifen durch mein bereits nass gewordenes Fell. Die Luft ist noch von der morgendlichen Kälte benetzt und erste Sonnenstrahlen dringen durch die dichten Baumkronen und wecken die Bewohner des Waldes.
Ich bin schon seit Stunden wach. In letzter Zeit kann ich nicht besonders gut schlafen. Es gibt so viel zu beachten, zu planen und zu berücksichtigen. Nicht zu vergessen, dass ich eine Familie habe, die auf mich zählt.

Es ist selten, aber nicht unwahrscheinlich. Ein Rudel wie meins. Wir mögen nicht viele sein, doch es sind alles starke Männer, die sich mir verpflichtet fühlen. Mein Revier ist nicht riesig, aber ausreichend für uns. Wenn da nur nicht das Problem mit Henry wäre. Sein Gebiet grenzt westlich an unseres und er wartet nur darauf meine Position als Alpha zu untergraben, damit er sich mein Revier unter den Nagel reißen kann. Denn da wären wir schon beim Problem des Problems. Dass mein Rudel nur aus Männern besteht, bedeutet, dass wir keinen Zukunft haben. Als einsame Wölfe haben wir uns gefunden und zusammengeschlossen, aber wenn nicht bald einer von uns eine weibliche Gefährtin findet, sieht es schlecht aus mit dem Bestehen unseres Rudels.
Manchmal glaube ich, verflucht zu sein. Es kann doch nicht mit rechten Dingen zugehen, wenn keiner der acht Männer eine Gefährtin findet. Streng genommen nur sechs von ihnen, denn Jesper und Len haben sich schon vor einiger Zeit gefunden. Das war auch der Grund, warum sie von ihrem Rudel verstoßen wurden. In manchen Gegenden hat ihre Liebe keinen Wert für die Gemeinschaft, für das Rudel und sie werden deshalb nicht akzeptiert. Sie waren einige Monate allein in den Wäldern Kanadas unterwegs, bis sie von uns gehört haben und sich uns angeschlossen haben. Bei uns hat jeder einen Platz, der woanders unerwünscht ist oder einfach andere Meinungen vertritt. Jesper und Len mögen ihr Glück vielleicht gefunden haben, aber die beiden Männer werden uns keine Welpen schenken und das Überleben des Rudels sichern. Wir machen uns dadurch angreifbar. Henry kennt die Situation des Rudels und verfolgt seine eigenen Pläne, die nichts mit dem zu tun haben, was Recht und Ordnung ist. Es gibt umgeschrieben Gesetze in unserer Welt. Die meisten halten sich daran, doch der Nachteil an einem ungeschriebenen Gesetz ist, dass niemand Konsequenzen zu erwarten hat, wenn er sie bricht. Die Gesetze der Natur sind hart und nicht veränderlich. Zur Zeit stehen wir als einsame Wölfe ganz unten in der Hierarchie. Aber ich werde nicht aufgeben und wenn es sein muss auch bis zum Schluss kämpfen. So einfach gebe ich mein Territorium nicht her.
Eine letzte Chance bleibt mir noch. In zwei Wochen findet eine Zeremonie bei dem großen Redbone Rudel statt. Ich werde schon ein paar Tage eher anreisen und den Alpha erneut um ihre Unterstützung bitten. Es kann doch nicht sein, dass sie einfach zuschauen möchte, wie wir zugrunde gehen. Sie hat mich bisher immer zurück gewiesen und wird es wahrscheinlich auch diesmal tun, aber ich möchte sicher gehen, wirklich alles versucht zu haben. Vor langer Zeit war ich sogar mit den Söhnen des Alphas befreundet, aber selbst diese Verbindung ist in die Brüche gegangen. Ich weiß nicht genau wie es passiert ist, es war ein schleichender Prozess. Unsere Rudel gehören zwar zu einer Allianz, aber bisher hat mir das nichts gebracht.

Ich verlangsame mein Tempo, als ich mich unserer kleinen Siedlung nähere. Mein Fell beginnt sich zurück zu bilden und ich spüre die Knochen unter meiner Haut knacken. Ganz langsam verschlechtert sich meine Sicht und auch meine dunklen Pfoten bilden zuerst verkümmerte Knochenstrukturen, bis ich Hände und Finger erkennen kann. Nachdem sich der Wolf vollständig in mein Inneres zurück gezogen hat, strecke ich mich ausgiebig und lasse die Knochen in meinem Nacken knacken. Noch einmal muss ich meine Schultern kreisen lassen, bevor sich mein menschliches Äußeres wieder angenehm anfühlt und ich die ersten Schritte gehen kann.
Meine morgendliche Runde hat mir den Kopf frei gemacht. Nun muss ich mir nur etwas überziehen und dann kann ich den Männern meine Entscheidung mitteilen.

“Ich werde Ian mitnehmen“, verkünde ich und schaue den riesigen Kerl am anderen Ende des Raums an. Seine braunen Augen schauen mir direkt entgegen und er nickt mir zu. Dann wende ich mich an Clayton, meine rechte Hand. “Ihr müsst verstärkt Patrouillieren. Henry könnte meine Abwesenheit nutzen und euch angreifen. Ihr lasst aber nicht zu, dass dieser Dreckskerl unser Gebiet einnimmt“, verlange ich und warte auf das zustimmende Nicken meines besten Freundes. Anschließend stimmen mir auch die anderen Männer im Raum zu.
Als ich ihnen signalisiere, dass sie gehen können, warte ich bis der Raum gelehrt ist und schaue in die vertrauten blauen Augen meines besten Freundes. Seine roten Haare leuchten wie Feuer als die Sonnenstrahlen das Fenster erreichen und auf ihn fallen. In seinem Blick kann ich die Sorge erkennen, die mich die ein oder andere Nacht wertvolle Stunden Schlaf gekostet hat.
“Ich möchte stündlich Updates bekommen. Es passt mir gar nicht euch jetzt alleine zu lassen, aber ich darf nichts unversucht lassen. Wenn Silver uns nur zwei Männer mitschicken würde, damit Henry sieht, dass wir Unterstützer haben, dann wäre uns schon geholfen. Natürlich nicht auf lange Sicht, aber es würde ausreichen, bis uns etwas besseres einfällt“, teile ich Clayton meine Gedanken mit.
Er steht angelehnt an den großen dunklen Konferenztisch und spielt mit seinem Feuerzeug.
“Silver ist eine harte Nuss, die wirst du nicht so einfach knacken“, antwortet er und am liebsten hätte ich laut los geknurrt, weil es mir überhaupt nicht gefällt das zu hören. Aber er hat Recht und die Wahrheit tut eben weh.
“Wir werden nicht aufgeben. Es gibt noch Hoffnung“, murmel ich und versuche mich selbst davon zu überzeugen.
Ja, Hoffnung.
Sie ist noch irgendwo in mir, im Schatten verborgen und ganz winzig. Doch so lang dieses kleine Licht nicht erlischt, werde ich auch nicht aufgeben.
“Und wenn wir sonst nichts außer Hoffnung haben, wird jeder stolz an deiner Seite kämpfen, um das zu verteidigen, was uns zusteht.“ Clayton war schon immer ein Mann mit weisen Worten. Genau das was ich brauche, denn auch wenn es nicht das ist, was ich hören möchte, ist es das, was ich hören muss.
Er löst sich aus seiner Position, klopft mir auf die Schulter und verlässt dann ebenfalls den Raum.

Wir haben uns dieses Land rechtmäßig verdient. Es gab keinen Anspruch, war frei. Dann bin ich nach und nach auf sie gestoßen und sie haben mich als ihren Alpha anerkannt. Wir haben uns hier niedergelassen, weil wir hier so sein können, wie wir wollen. Keiner der Männer, inklusive mir, hat je zu seinem ursprünglichen Rudel gepasst. Oft sind die Regeln streng und man muss sich unterordnen. Hier gilt das auch, aber mit deutlich mehr Freiheiten.
Jahre sind vergangen und wir sind älter geworden. Es wird Zeit sesshaft zu werden, doch dieser Wunsch bleibt uns verwehrt. Ich weiß nicht woran es liegt, dass niemand bis auf Jesper und Len sein wahres Glück zu finden scheint. Ob wir selbst Schuld tragen, weil wir unseren Rudeln den Rücken gekehrt haben? Das kann und will ich nicht glauben. Denn auch wenn es selten vorkommen mag, sind wir nicht dazu verdammt elendig zu verrecken. Ja, jeder von uns war ein einsamer Wolf, doch wir haben uns gefunden und sind bereit, in einer Gemeinschaft zusammen zu leben.

Wütend haue ich mit der Faust auf den Tisch und verlasse dann das Gebäude. Der Duft des Waldes erreicht meinen Nase und entspannt für einen kurzen Augenblick meine Nerven.
Ich greife mir noch schnell meine Lederjacke und gehe dann auf den alten Jeep zu. Ian befindet sich bereits im Inneren des Wagens und wartet auf mich. Meine Wahl ist auf ihn gefallen, weil er ein echter Hüne ist und so anstelle von drei Männern zu meinem Schutz mitkommen kann. Ich kann es mir nicht leisten mehr als einen mit auf diese Reise zu nehmen. Jeder einzelne wird hier an vorderster Front gebraucht. Allein wir zwei sind ein großer Verlust, aber mir bleibt keine Wahl. Ich muss diese Reise antreten. Zu den Pflichten eines Alphas gehört nämlich auch die politischen Beziehungen zu pflegen und eine dieser Beziehungen ist das Redbone Rudel unter Silvers Führung.

 Zu den Pflichten eines Alphas gehört nämlich auch die politischen Beziehungen zu pflegen und eine dieser Beziehungen ist das Redbone Rudel unter Silvers Führung

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