17 | River

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Das Unwetter hatte die ganze Nacht gewütet. Erst früh am Morgen hat der Wind nachgelassen und auch der Regen wurde weniger. Bis auf ein paar Ausnahmen war es ein entspannter Tag. Die Jungs haben zuerst Viedeospiele gespielt und sind dann zu Kartenspielen übergegangen, bei denen am Abend dann auch Alkohol floss. Ich hingegen habe in meinem Buch gelesen und den Küchendienst übernommen. Jesper und Len haben nämlich den halben Tag im Bett verbracht, genau wie Olivia und Ian. Da es für mich aber ungewohnt ist, für so viele Personen auf einmal zu kochen, hat mir Nikan dabei geholfen und bei dem Abendessen haben auch die anderen gemeinsam mit mir gekocht. Es war alles in allem eine gemütliche und entspannte Atmosphäre.
Bis auf diesen einen Moment.
Ich habe Nikan aus meinem Buch vorgelesen und er hat begonnen mit seinen Fingern über meine Schulter und meinen Nacken zu streicheln. Diese winzigen Berührungen haben alles übertroffen, was ich je gespürt habe. Nicht einmal die Empfindungen, als ich im Wald seine Hand gehalten habe, kamen an das ran, was ich an diesem Tag gespürt habe. Anfangs war es nur die Gänsehaut auf meinen Armen, dann mein schneller schlagendes Herz und von da an wurde es richtig intensiv. Eine unbeschreibbare Hitze ist meine Wirbelsäule hinauf gestiegen und hat sich unter meiner Schädeldecke ausgebreitet. Plötzlich war alles so warm und ich hatte das Gefühl, dass mein Blut über einer heißen Flamme kochen würde. Nikans Finger in meinen Haaren haben dazu geführt, dass ich das Bedürfnis hatte, mich an ihn zu schmiegen und all die Dinge zu tun, die ich sonst immer in meinen Träumen sehe, von denen ich manchmal Nachts wach werde, weil sich mein Wolf so sehr nach seinen Berührungen sehnt. Zu diesem Zeitpunkt hätte ich fast angefangen zu Stöhnen, es ist mir schwer gefallen mich auf die Schrift in meinen Händen zu konzentrieren, weil ich keine Aufmerksamkeit auf uns lenken wollte, da wir nicht alleine im Wohnzimmer waren, doch Nikan hat sich so plötzlich von mir entfernt, dass mir jegliches Gefühl aus den Gliedern gewichen ist und mir für einen Augenblick richtig schwindlig war. Mein Herz hat geflattert und es hat ein paar Minuten gebraucht, bis ich mich erinnern konnte, wie man überhaupt atmet.
Götter, das war vielleicht ein Erlebnis.
Nikan habe ich erst eine Stunde später wieder gesehen. Er hat sich glaube ich in seinem Zimmer eingesperrt und so viel Abstand wie möglich zwischen uns gebracht. Wie weit ich diese Berührungen wohl zugelassen hätte, wenn wir allein gewesen wären?

Die Aufräumarbeiten nachdem das Unwetter vorbei gezogen ist, haben etwa zwei Tage in Anspruch genommen. An den Gebäuden ist nichts zu Schaden gekommen. Dafür hat es den ein oder anderen Baum erwischt, dessen Wurzeln noch nicht tief genug im Boden verankert waren. Die meiste Zeit waren wir also damit beschäftigt Äste zu sammeln und die umgestürzten Bäume in Brennholz zu verwandeln. Auch der Weg in die Stadt musste freigelegt werden.
Heute sieht es schon fast wieder so aus, als wäre nie etwas gewesen. Die Sonne scheint und die Luft trägt einen herrlichen Duft aus Regen und feuchtem Holz.

Ich habe mich wieder auf den Boden der Veranda gesetzt und lasse meine Füße über der Erde baumeln. Irgendwie ist das zu meinem Platz geworden, aber er bietet auch eine fantastische Aussicht auf die Siedlung. Von hier aus kann ich alles beobachten und da immer jemand draußen ist, bin ich nie alleine. Mit Mato und Noah habe ich das ein oder andere Mal schon Fußball gespielt oder was man eben so nennen kann, wenn man sich zu dritt einen Ball zuspielt.
Manchmal lese ich auch ein Buch oder jemand setzt sich zu mir und wir unterhalten uns. Es ist schon noch ein wenig merkwürdig, dass ich so viel freie Zeit habe. Vor kurzem hatte ich stets etwas zu tun. Sei es meine Arbeit im Restaurant oder auf die Welpen des Rudels aufzupassen. Auch wenn irgendwo anders eine helfende Hand gebraucht wurde, war ich immer zur Stelle. Jetzt koche ich maximal oder helfe bei Kleinigkeiten, aber viel zu tun habe ich nicht.

"Was machst du gerade?", fragt Olivia und nimmt neben mir auf dem Holzboden Platz.
Ich seufze kurz und schaue dann in die grünen Augen meiner besten Freundin. "Ich habe daran gedacht, wie ruhig hier alles ist, mal abgesehen von dem Unwetter neulich. Nachdem, was ich so gehört habe, hätte ich gedacht, dass es hier viel stressiger zugeht." Dabei spiele ich auf die Revierkämpfe des benachbarten Rudels an. Aber seit ich hier bin, habe ich nichts davon mitbekommen und auch die anderen scheinen sehr entspannt zu sein. Ich kann mich noch genau erinnern, wie ich Nachts wach geworden bin, weil ich so eine Unruhe gespürt habe. Ich habe Nikans Unruhe gespürt. Er hat sich Sorgen gemacht, dass sein Rudel während seiner Abwesenheit angegriffen wird.
"Du hast Recht, es ist wirklich sehr ruhig hier", stimmt sie mir zu und lässt ihren Blick einmal über das Gelände schweifen. Dann schaut sie mich grinsend an und sagt: "Weißt du was wir jetzt machen? Ich zeige dir den Wald. Du bist nun fast zwei Wochen hier und kennst dein Zuhause gar nicht. Außerdem, wann hast du dich das letzte Mal verwandelt?"
Ja, das ist schon eine Weile her. Seit Nikan in mein Leben getreten ist um genau zu sein.
"Ach, ist auch egal, wir machen das jetzt einfach", bestimmt Olivia und zieht mich an meiner Hand auf die Beine.
"Was habt ihr vor?", fragt Len, der im Augenblick ebenfalls draußen ist.
"Ich zeige River das Gelände", antwortet Olivia und zieht mich lachend weiter mit sich, bis sie beginnt zu rennen.
"Seid vorsichtig an den Grenzen!", ruft uns Len hinterher, doch die Warnung kommt gar nicht richtig bei uns an, weil wir uns bereits in einem kleinen Wettrennen zwischen den Bäumen befinden. Wie sehr ich das vermisst habe. Einfach loszulaufen und den Wind auf meiner Haut zu spüren.

Nachdem wir eine Weile gerannt sind, zieht sich Olivia ihr Top über den Kopf, ich folge ihrem Beispiel und lasse ebenfalls meine Klamotten auf den Boden fallen. Da ich mich schon eine Weile nicht mehr verwandelt habe, dauert es ein bisschen, bis sich meine Knochen verschieben und ich einen bekannten Druck an meinen Zähnen spüre. Meine Sicht verschärft sich als erstes, gefolgt von meinem Geruchs- und Hörsinn. Ich richte meinen Blick auf Olivia und erkenne bereits das rotbraune Fell ihres Wolfes. Sie wartet auf mich und als auch ich meine Verwandlung abgeschlossen habe, beginnen wir wieder durch den Wald zu laufen und Olivia signalisiert mir ihr zu folgen. Da ich mich in diesem Wald nicht auskenne, bleibt mir auch keine andere Wahl.
Wir rennen eine Weile zwischen hohen Bäumen entlang bis wir in eine Gegend kommen, in der es viele Büsche, Sträucher und Farne gibt. Die kleinen Blätter streifen mein dunkles Fell und ich versuche Olivia nicht aus den Augen zu verlieren. Aber mit ihrem Geruch in der Nase ist das so gut wie unmöglich. Aktuell befindet sie sich ein paar Meter vor mir, doch ich schließe schnell zu ihr auf, weil sie stehen geblieben ist. Erst als sich die Blätter vor meinen Augen lichten, erkenne ich, warum wir stehen geblieben sind.
Vor uns befindet sich Wasser.
Ein seichter Fluss fließt zwischen den Bäumen hindurch.
Ein Blick zu Olivia verrät mir, dass sie mir genau das hier zeigen wollte.
Der Fluss sieht nicht tief aus. In Menschengestalt würde mir das Wasser vielleicht nur bis zu den Oberschenkeln gehen, aber es würde ausreichen, um sich im Sommer ein bisschen abzukühlen.
Ich bin die erste von uns, deren Pfoten das Wasser berühren und die Kieselsteine darunter spürt. Klares Wasser fließt über mein schwarzes Fell. Es fühlt sich herrlich an. Die Strömung ist nicht stark, also traue ich mich ein wenig mehr in den Fluss hinein. Ganz vorsichtig mache ich einen Schritt nach dem anderen, bis ich auf einmal mit Wasser vollgespritzt werde.
Olivia ist in den Fluss gesprungen und tollt nun umher. Ich knurre kurz, doch springe dann ebenfalls auf sie zu und merke wie sich das Wasser um meinen ganzen Körper schließt. Noch kann ich gut auf meinen vier Pfoten stehen, doch weiter traue ich mich nicht in das Wasser hinein. Olivia bemerkt dies auch und verdeutlicht mir mit einer Kopfbewegung, ihr weiter zu folgen.
Wir verlassen den Fluss, schütteln uns das Wasser aus dem Fell und beginnen dann wieder uns durch den Wald, dem Lauf des Flusses entlang, zu jagen.
Dieses Gefühl der Freiheit ist mir am liebsten. Die Freiheit der Natur.
Die Luft riecht nach Erde, Holz und Flusswasser. Aber da liegt noch eine andere Note drin. Etwas, dass ich nicht identifizieren kann und bevor ich herausfinden kann, was dieser mir unbekannte Geruch ist, liegt etwas schweres auf meinem Rücken und ich spüre einen brennenden Schmerz in meiner rechten Schulter und meiner Kehle entkommt ein quälender Laut. Sofort sacke ich zusammen, versuche aber mich herumzudrehen und erkennen einen Wolf über mir thronen, der mir seine Fangzähne präsentiert.
Er knurrt.
Ich knurre zurück und versuche ihn gleichzeitig von mir zu stoßen. Ich schnappe nach ihm, doch es bringt nichts.
Der Schmerz in meiner Schulter wird immer stärker. Ist das Blut, das ich da rieche? Ich kann definitiv Blut riechen. Mein Bewusstsein scheint zu schwinden, aber ich kann nicht so einfach aufgeben.
Noch immer überrascht von dem plötzlichen Angriff des fremden Wolfes, versuche ich mich erneut zu befreien. Ich knurre, zeige ihm ebenfalls meine Fangzähne und versuche wiederholt nach ihm zu schnappen. In seiner Position ist er allerdings stärker und so holt er mir seiner Pfote aus, hinterlässt Spuren seiner Krallen auf meiner Brust und drückt mich weiter in die Erde.
Aber er befindet sich nicht lang in dieser erhabenen Position, denn Olivia reißt ihn von mir  und beißt ihn ein paar Mal in den Hals.
Mehr bekomme ich gar nicht mit, denn ich versuche mich wieder auf meine Pfoten zu stellen, doch breche sofort zusammen, als sich der Schmerz von meiner rechten Schulter durch meinen gesamten Körper zieht. Quälende Laute voller Schmerz entweichen meiner Schnauze und das Letzte, das ich mitbekomme, bevor mich ein schwindelndes Gefühl übermannt und alles dunkel wird, ist Olivias lautes Heulen.

MoonshadowWhere stories live. Discover now