19 | River

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Das erste was ich spüre als ich meine Augen aufschlage, ist ein undefinierbarer Druck in meiner Brust.
"Du bist wach", ertönt es neben mir und mein Blick wandert zu Nikan, der oberkörperfrei vor meinem Bett kniet und meine Hand hält. Blut. Da ist Blut an seine Händen und an meiner auch.
Mein Blut.
Nach der ersten Benommenheit fällt mir wieder ein, was gestern passiert ist. Es war doch gestern?
Ein fremder Wolf hat mich angegriffen. Da waren Schmerzen, dann nichts und dann Nikans wunderschöne Augen.
"Wie geht es dir?", fragt er mich und mustert mein Gesicht genau. Er sieht müde aus. Unter seinen Augen kann ich dunkle Schatten erkennen. Seine sonst bronzefarbene Haut trägt nun einen perlweißen blassen Schimmer.
"Es geht mir gut", antworte ich zögerlich und versuche nach der Stelle zu greifen, an der sich der Wandler in mir festgebissen hat, doch ich treffe nur auf Stoff. Ein großer Verband um genau zu sein. Ich taste weiter nach unten und stelle fest, dass der Verband auch um meine Brust und meine Rippen gebunden ist. Und dass ich nackt bin. "Der Verband juckt und sitzt ziemlich fest", füge ich noch hinzu, nachdem ich meine Liegepossition minimal verändert habe.
Erneut huscht mein Blick auf unsere Hände und das Blut.
"Du hast keine Schmerzen?", möchte Nikan weiter besorgt wissen und ich schüttel den Kopf.
Nein, ich habe tatsächlich keine Schmerzen. Das muss wohl an dem Zeug liegen, dass mir Len verabreicht hat. Meine Erinnerungen sind zwar verschwommen, aber ich kann mich dunkel daran erinnern nackt auf dem Esstisch gelegen zu haben und von Len behandelt wurden zu sein. Nikan hat mich anschließend ins Bett getragen. Danach ist alles irgendwie schwarz.
"Wie lange habe ich geschlafen?" Ich habe absolut keine Vorstellung welchen Tag oder welche Uhrzeit wir haben. Ist es früh am Morgen oder doch schon später Nachmittag?
"Sechzehn Stunden", antwortet Nikan knapp und mir fallen fast die Augen aus dem Kopf als ich diese Zahl höre.
"Sechzehn Stunden", wiederhole ich fasziniert. So lange habe ich noch nie geschlafen. "Hast du überhaupt geschlafen?", frage ich skeptisch und betrachte einmal mehr seine glasigen Augen.
"Ich bin einmal kurz eingenickt."
"Nikan", seufze ich und fühle mich gleichzeitig schuldig, da er offensichtlich gelitten hat und das meinetwegen. "Hast du denn mal etwas gegessen oder überhaupt den Raum verlassen?" Unsere blutigen ineinander verschlungenen Hände sind jedoch Antwort genug.
"Ich konnte und wollte dich nicht aus den Augen lassen", gesteht er und streicht mir mit seiner freien Hand über die Haare und dann über die Wange. Diese winzige Berührung lässt mich kurz aufseufzen und ich schmiege mich automatisch näher an seine Hand. Ich weiß nicht, was sich geändert hat, aber im Moment ist es genau das, was ich brauche. Einfach nur Nikan und das elektrisierende Gefühl seiner Berührungen. Wie gerne ich noch länger so verweilen würde, aber ein abstoßender Geruch erreicht meine Nase. Oh Götter, das bin ja ich! Ich stinke nach Schweiß und so ungern ich diesen Vergleich ziehe, aber treffender könnte es nicht sein, rieche ich auch nach nassem Hund.
"Ich muss mich waschen", informiere ich Nikan und versuche aufzustehen, doch werde von ihm aufgehalten und sanft wieder in die Kissen gedrückt.
"Nein, bleib liegen. Len hat gesagt du sollst dich ausruhen."
"Nikan, ich habe sechzehn Stunden geschlafen und habe keine Schmerzen. An mir klebt überall Blut und Erde. Ich stinke nach Schweiß und möchte mich waschen", bestimme ich und dieses Mal hält mich Nikan nicht auf. Im Gegenteil, er hilft mir und sucht nach einer Decke am Fußende des Bettes, die ich mir um den Körper schlingen kann, weil ich nackt bin. Dabei merke ich jedoch die Wunden und ziehe scharf die Luft ein.
"Was ist? Hast du Schmerzen?", möchte Nikan panisch wissen, doch ich schüttel den Kopf.
"Nein, es zieht nur etwas, sind bestimmt die Fäden", antworte ich schnell, um ihn zu beruhigen. Wir Wandler heilen normalerweise schneller als Menschen, doch auch wir sind keine Superhelden. Es wird wohl zwei oder drei Wochen dauern bis von meinen Verletzungen nur noch Narben zu erkennen sind. Meine Wunden müssen tief gewesen sein, wenn Len sie genäht hat. Ich kenne mich damit nicht sehr gut aus, aber in ein paar Tagen können bestimmt die Fäden gezogen werden. Ich freue mich jetzt schon, denn es fühlt sich unangenehm an.
Vorsichtig setze ich meine Füße auf dem kühlen Holzboden auf und versuche dann aus dem Bett zu steigen und gleichzeitig die Decke um meinen Körper fest zu halten. Nikan bekommt meine ungelenken Bewegungen mit und greift mir sofort unter den gesunden Arm, um mich zu stützen. So gehen wir gemeinsam in kleinen Schritten zu dem gegenüberliegenden Bad, wo ich mich erst einmal auf den Klodeckel setze. Allein diese kurze Strecke hat mich aus der Puste gebracht, aber wahrscheinlich muss sich mein Kreislauf erst einmal daran gewöhnen, dass ich nicht mehr im Bett liege.
Nikan geht zu der Badewanne neben dem Fenster und lässt Wasser in sie hinein laufen, damit ich mich hinsetzen kann und der Verband nicht nass wird.
"Ich hole Olivia. Sie kann dir helfen."
"Nein", halte ich Nikan auf, der eben den Raum verlassen wollte. "Ist schon okay. Ich meine das ist nicht das erste Mal, dass du mich nun nackt siehst", scherze ich. Nein, mittlerweile hat mich wohl jeder in diesem Rudel nackt gesehen. Ich schäme mich nicht. Sie sind mein Rudel. "Außerdem könntest du auch ein bisschen Wasser und Seife gebrauchen." Ich lächle Nikan an und lasse meine Augen über seine Brust wandern. Auch dort kann ich Blut erkennen.
"Okay" Nikans Stimme klingt gebrochen. "Ich werde nur schnell nach unten gehen und einen frischen Verband besorgen. Bleib so sitzen, ich bin in einer Minute wieder da." Mit einem letzten zögerlichen Blick verlässt er das Badezimmer.

MoonshadowWhere stories live. Discover now