14 | Nikan

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River sah wunderschön aus als sie auf der Veranda saß, in ihrem hellblauen Kleid und den langen schwarzen Haaren, die wie ein Umhang ihre Gestalt umhüllen. Es hat mein Herz erwärmt sie dort sitzen zu sehen, weil sie einfach perfekt hier her passt.
Natürlich ist mir auch ihre Reaktion auf mich aufgefallen. Wie schnell ihr Herz plötzlich geschlagen hat und wie nervös sie war, als ich mich neben sie gesetzt habe. Egal was sie sagt, aber der Gefährtenverbindung kann sie nicht entkommen und auch wenn ihr Verstand sie davon abhält, alles ein bisschen zu beschleunigen, zeigt mir ihr Körper, dass sie es will. Ihr Wolf steckt da drin und verzehrt sich nach Zuneigung. Noch ist es ein Kampf, wer die Oberhand behält. Verstand oder Verlangen. Ich weiß auf jeden Fall, wer gewinnen wird. Die Frage ist nur wann.
Da ich allerdings ihr und mir selbst das Versprechen gegeben habe, nichts zu unternehmen, bis sie bereit dafür ist, muss ich weiterhin geduldig ihren inneren Kampf beobachten.

"Wir haben Solarmodule auf dem Dach, weil wir nicht ans Stromnetzwerk angeschlossen sind und falls die Sonne ein paar Tage nicht scheinen sollte, haben wir einen Generator im Keller. Unser Wasser bekommen wir vom Brunnen, das mit einer Pumpe nach oben befördert wird. Zusätzlich gibt es zwei Regenwassertanks", erkläre ich River, die allerdings von unseren Hühner abgelenkt zu sein scheint.
Sie hat sich eine der Hennen auf den Schoß gesetzt und streichelt über ihr braunes Gefieder.
"Mehr gibt es eigentlich noch nicht", ergänze ich nach einer Weile. Ich habe ihr die letzte halbe Stunde unsere kleine Siedlung gezeigt, aber bis auf das Haupthaus, einen Geräteschuppen, unsere Garage und ein kleines Gemüsebeet gibt es nicht viel zu zeigen. Den Hühnerstall natürlich nicht zu vergessen.
Als River die Henne wieder auf den Boden absetzt, beginnt sie umherliegende Federn aufzusammeln. Dabei sucht sie sich die besten heraus und sammelt sie in einem kleinen Strauß zwischen ihren Fingern und verstaut sie anschließend in eine der beiden Taschen ihres hellblauen Kleides.
"Für einen Traumfänger", erklärt sie, als sie meinen verwunderten Blick entdeckt und ich nicke verstehend. "Wir sollten uns noch um ein Gewächshaus kümmern."
"Ja, das haben wir auch schon mehrfach geplant, doch entweder hat die Zeit oder das Geld gefehlt", antworte ich und muss aufpassen nicht dämlich zu Grinsen, da sie das Wort wir benutzt hat.
Als wir den Auslauf verlassen, achte ich darauf das Tor richtig zu schließen und setze meinen Weg an Rivers Seite fort.
"Sollen wir gemeinsam die Grenzen ablaufen?" Unser Gebiet ist nicht groß, doch ich würde River schon gerne voller Stolz zeigen, was unser ist.
"Ich weiß nicht", antwortet sie zögerlich und schaut mich mit nach oben gezogenen Augenbrauen und entschuldigender Miene an. Ich weiß, worum es ihr geht.
Wenn ich ihr das Revier zeigen möchte, würde das bedeuten, dass wir uns verwandeln müssten. Eine sehr intime Angelegenheit. Nicht, weil wir dabei nackt sind - diesen Schritt haben wir irgendwie schon übersprungen - sondern, weil es unser verletzbarster Augenblick ist. Genau in diesem Moment sind wir am schwächsten und Schwäche zeigen wir nur unseren Liebsten, denjenigen, denen wir am meisten Vertrauen.
Ich hätte kein Problem damit mich hier und jetzt vor River zu verwandeln, doch ich kenne ihre Gründe und verstehe es.
"Wir können noch ein Stück gehen, wenn du möchtest?", bietet sie mir unter einem zaghaften Lächeln an.
"Nichts lieber als das", antworte ich freudestrahlend und wir setzen unseren Weg zwischen den Bäumen fort.

River trägt keine Schuhe und so streifen ihre nackten Füße über den mit Moos bedeckten Waldboden. Es ist nicht ungewöhnlich, dass wir barfuß herum laufen, doch River scheint dies ausschließlich zu tun. Ihre Verbindung zur Natur ist bemerkenswert und ich wünschte ich könnte sie durch ihre Augen sehen.
Wenn ich den Wald betrachte, dann sehe ich auch seine Schönheit und die Wunder, doch ich habe nicht diese besondere Verbindung. River scheint es anders zu erleben. Sie trägt stets ein leibliches Lächeln zwischen ihren Mundwinkeln, wenn sie in den Himmel schaut und die Wolken vorbeiziehen sieht oder der Wind über ihre Haut streift. Zwischen hohen Gräsern scheint sie zu Hause zu sein und mit Blumen in ihrem Haar sieht sie einfach bezaubernd aus.
Meine kleine Waldfee.
Da kommt mir eine Idee!
Ich lenke unseren Weg auf eine kleine Lichtung und lasse mich ein wenig zurückfallen, um ein paar Gänseblümchen zu pflücken, die hier wachsen.
River ist stehen geblieben und schaut mich skeptisch an, doch ich Grinse nur und schließe die Lücke zwischen uns. Nun bin ich ihr ganz nah und höre wie ihr Herz schneller schlägt. Ihre blauen Augen schauen abwartend zu mir hoch und ich streiche ihre Haare hinter das Ohr. Anschließend nehme ich eine von gepflückten Blumen und stecke sie ihr in das zurückgestrichene Haar. Weitere verteile ich ihren Haaransatz entlang bis zum Scheitel. Die weißen Blütenblätter passen perfekt zu ihren schwarzen Haaren und ergeben einen schönen Kontrast.
Nun sieht sie wirklich wie ein Geschöpf des Waldes aus.
Allein ihr Anblick macht mich so glücklich, dass ich die ganze Welt umarmen könnte.
Eine Mischung aus Überraschung und Faszination liegt in der kühlen Farbe ihrer Augen. Doch das ist das einzig kalte an ihr. Von River geht solch eine Wärme aus, dass mir ganz heiß wird.
Noch eine Blume ist übrig und die halte ich ihr hin, damit sie sie nehme kann. Es ist das erste Mal, dass ich ihr Blumen schenken. Vielleicht wäre ein Strauß besser gewesen oder zumindest größere Blumen?
Nein, die hier sind perfekt.
"Danke", antwortet sie mild lächelnd und nimmt die Blume aus meinen Fingern und dann tut sie etwas, dass mich so sehr überrascht, dass es mich fast schon schockt. Sie nimmt meine Hand, in der sich eben noch die Blume befand, und legt ihre in meine.
Und als wäre nichts passiert, laufen wir so nun weiter.
Sie hat schon einmal meine Hand gehalten. Na ja, besser gesagt mein Handgelenk, aber das ist so ähnlich. Mit dem Unterschied, dass sie sauer auf mich war, weil ich Luke eine verpasst hatte.
Doch jetzt, ganz freiwillig und ohne sauer auf mich zu sein, hält sie meine Hand.
Das ist glaube ich die erste Berührung überhaupt, die von ihr ausgeht und ich wünschte diese Berührung mehr genießen zu können, doch meine Hand kribbelt so sehr, dass ich kaum ihre zarte Haut darunter spüren kann.
"Kann ich dich mal etwas fragen?"
"Hm?" Ich war so auf unsere Hände fixiert, dass ich ihre Worte kaum mitbekommen habe. Doch nun richte ich meine volle Aufmerksamkeit wieder auf River und schaue sie während wir nebeneinander laufen von der Seite an.
"Kann ich dich mal etwas fragen?", wiederholt sie und schaut kurz grinsend zu mir auf.
"Immer."
"Warum habt ihr euer Rudel eigentlich Greyblood Rudel genannt? Ihr konntet jeden Namen wählen und habt euch ausgerechnet diesen ausgesucht?"
Ja, das ist eine berechtigte Frage. Greybloods sind einsame Wölfe. Man nennt so Verstoßene und im Allgemeinen ist es eine Beleidigung, doch nicht für uns.
"Das ist nun mal wer wir sind. Es macht uns aus und gehört zu unserer Geschichte. Wir wollen uns nicht verstecken. Jeder andere, der sich uns anschließen möchte, kann uns so außerdem besser finden. Vielleicht können wir auch dafür sorgen, dass es nicht mehr als schlecht angesehen wird. Wir haben den Ruf unfähig zu sein in ein Rudel zu passen, doch in Wahrheit passt das Rudel nicht zu uns. Ja, es gibt auch diejenigen von uns, die bevorzugen allein zu leben, doch nicht alle. Wir sind der Beweis, dass es eben doch funktionieren kann. Es war nur das Rudel, ihre Traditionen und Ansichten, die nicht zu uns gepasst haben. Aber macht uns das gleich zu etwas Schlechtem? Jesper und Len zum Beispiel, deren einziger Fehler  war ihre Verbindung zueinander. Das was wir uns alle wünschen. Jemanden zu finden, mit dem wir den Rest unseres Lebens verbringen können. Aber deren Liebe, ihre Verbindung, wurde nicht akzeptiert, weil sie wertlos für das Rudel und dessen Zukunft waren. Sie sind Gefährten! Wie kann das wertlos sein?"
Schon der Gedanke daran macht mich wütend und bringt mein Blut zum kochen. Ich kann bis heute nicht begreifen, wie ein Rudel, ihre Familie, so eine Entscheidung treffen konnte.
"Das ist es nicht. Es ist nicht wertlos", antwortet River zaghaft und streicht mit ihrem Daumen beruhigend über meinen Handrücken. "Was ist deine Geschichte? Wie bist du hier gelandet?", möchte sie weiter wissen und ihr Interesse an mir hebt meine Stimmung wieder ein wenig.
"Ich bin als Alpha geboren, doch unglücklicherweise hatte mein Rudel schon einen Alpha. Es ist mir manchmal schwer gefallen mich bei Entscheidungen zurück zu halten und anderer Meinung war ich meistens auch." Bei dem Gedanken muss ich Lachen. Es scheint eine Ewigkeit her zu sein. "Irgendwann mussten wir beweisen, wer der wahre Alpha im Rudel ist."
"Und du hast verloren?", fragt River überrascht nach und es amüsiert mich, dass sie diesen Gedanken absurd findet.
"Nein, es ist nie zu einem Kampf gekommen. Ich habe das Rudel freiwillig verlassen. Der andere Alpha hatte eine Familie. Ich weiß zwar nicht, wer von uns gewonnen hätte, doch ich möchte nicht verantwortlich für den Tod eines Familienvaters sein. Außerdem habe ich es nicht mehr ausgehalten, meine Mutter Nacht für Nacht weinen zu sehen."
"Was ist mit deiner Mutter? Was ist mit dem Rest deiner Familie?", möchte sie weiter wissen und diesmal bin ich derjenige, der sanft über ihren Handrücken streicht. Ich kann immer noch nicht so glauben, dass sie gerade meine Hand hält. Aber ich möchte mein Glück auch nicht hinterfragen und so genieße ich unseren Moment der Zweisamkeit.
"Sie sind dort geblieben. Ich hätte nie zugelassen, dass sie mich begleiten. Das ist mein Weg, nicht ihrer", erkläre ich und wende meinen Blick von River ab. Es ist erstaunlich, wie leicht ich mit ihr über diese Dinge reden kann. Die Erinnerungen sind es weniger.
"Hast du noch Kontakt zu ihnen?"
"Nicht wirklich. Mit meiner Mutter habe ich das letzte Mal vor drei Jahren gesprochen. Sie hat mich angerufen, als sie meine Nummer von Silver bekommen hat. Meine kleine Schwester hat mir vor einem Jahr mal einen Brief geschickt, in dem stand, dass sie mich vermisst und mich gerne besuchen kommen würde, doch das ist bis heute nicht passiert."
"Hast du noch mehr Familie?"
"Ja, einen kleine Bruder, er ist der Mittlere und ein paar Cousins und Cousinen. Wie sieht es bei dir aus? Hast du noch Kontakt zu Familienmitglieder? Außer deiner Schwester natürlich." Mara hat mir vor einigen Tagen erzählt, dass sie keine schöne Kindheit hatten und ihr altes Rudel verlassen haben, weil die Ansichten der Ältesten auf ebenso alten Traditionen beruhen, aber mehr wollte sie mir auch nicht sagen.
Bevor River antwortet, kratzt sie sich nervös an der Stirn und auch ihr schneller schlagendes Herz verrät, dass sie am liebsten nicht darüber sprechen möchte. Doch bevor ich ihr anbieten kann das Thema zu wechseln, seufzt sie und beginnt dann zu erzählen: "In unserem Rudel haben wir damals streng nach den alten Regeln gelebt. Also fernab von den Menschen, ohne Handys oder Internet. Ab und zu lief das Radio oder wir konnten einen Film im Fernsehen schauen. Meistens aber hat man uns fern von technischen Geräten gehalten. Ich durfte erst mit zwölf Jahren in die Schule gehen, weil man dann eingesehen hatte, dass man uns nicht komplett von der Welt abschneiden kann. Trotz der ganzen Verbote und Regeln hat es immer jemand geschafft, sich ein Handy zu besorgen oder irgendwelche CDs. Also hat man es für eine gute Idee gehalten uns lieber kontrolliert auf das Verbotene anzusetzen. Das ist aber komplett schief gegangen. Wer einmal die Freiheit gesehen hat, gibt sie nicht wieder freiwillig her." River lächelt bei diesen Worten, als denkt sie im Augenblick an etwas ganz bestimmtes. Doch ich möchte nicht nachfragen und sie unterbrechen und so redet sie weiter: "Es kam immer mehr zu Aufständen. Mara hat sogar einmal versucht mit mir abzuhauen. Aber wir wurden geschnappt. Na ja, es lief von da an eigentlich alles aus dem Ruder. Plötzlich sind Rudelmitglieder verschwunden. Ich weiß bis heute nicht, wo manche meiner Freunde abgeblieben sind. Aber dass einfach so Leute verschwinden hat für Angst und Wut gesorgt. Keine gute Kombi, wenn du mich fragst."
Für einen Augenblick ist River wieder still. Sie scheint zu überlegen, was sie als nächstes sagen soll.
Auch wenn das, was sie mir bereits erzählt hat, schrecklich klingt, weiß ich, dass da noch mehr dahinter steckt. Es sind nicht direkt Anzeichen von Lügen, die ich bei ihr erkennen kann. Doch, wenn einem jemand etwas verheimlicht, läuft es bei den Körperreaktionen auf das Gleiche hinaus.
Da ich ihre Hand in meiner halte, kann ich außerdem ausgezeichnet ihren Puls spüren.
"Weißt du, das Rudel war nicht so ganz überzeugt von der Gefährtenverbindung. Es wurden oft Frauen und Männer aus benachbarten Rudeln mit ähnlichen Ansichten als Partner der Kinder ausgesucht. Das war eine Entscheidung der Eltern und Rudelleitung. Mit Liebe hatte das nur selten zu tun. Aber, da der Kontakt zur Menschenwelt zugelassen wurde, haben die ersten von uns ihre menschlichen Gefährten gefunden. Wer diese Verbindung eingehen wollte, wurde vom Rudel verstoßen.
Sitka hatte damals geholfen, verstoßene Paare aus dem Süden an Rudel im ganzen Land zu vermitteln. Mara hat davon mitbekommen und wollte sich ebenfalls engagieren. Zu ihrem Glück ist sie auf Sitka gestoßen und nachdem er erfahren hat, wie es bei uns zu Hause zugeht, wollte er sie schnell von dort weg bringen. Aber Mara wollte mich nicht alleine lassen, also hat sie mich mit sich genommen. Meine Eltern waren nicht begeistert. Sie vertreten bis heute die Meinung der Ältesten. Dass wir aber eine andere Meinung haben, haben sie als schweren Verrat angesehen. Also nein, ich habe keinen Kontakt mehr. Ich habe auch danach nichts mehr von anderen Mitgliedern des Rudels gehört. Manchmal bin ich froh darüber, denn dann kann ich mir vorstellen, dass es allen gut geht. Meine Eltern, die wieder in Ruhe ihr Leben nach den alten Traditionen führen können und meine Freunde, die es alle da raus geschafft haben und jetzt glücklich in Freiheit ihr Leben leben können."
Wir laufen noch immer durch den Wald, doch sind bald wieder am Hauptgebäude angelangt. Ich kann die Stimmen der anderen bereits hören.
Ich würde so gerne etwas zu River sagen. Doch was? Alles was mir in den Sinn kommt ist nicht passend oder könnte von ihr falsch aufgenommen werden. Also bleibe ich still bis mir etwas einfällt.
"Keine Ahnung, ob du das hören möchtest, aber du passt perfekt hier her. Deine Vergangenheit hat dich zu einer Reisenden gemacht. Ein einsamer Wolf, der nie zur Ruhe kommt. Der sich nach Freiheit und Veränderungen sehnt. Deine Geschichte, ist unsere Geschichte. Die Geschichte vom einsamen Wolf, der Familie in seinesgleichen gefunden hat.
Und darüber bin ich sehr glücklich."
River bleibt stehen und schaut mich mit zur Seite geneigten Kopf an. Ihre blauen Augen mustern mich. Sie sucht etwas, doch ich kann nicht erkennen, was es ist.
Habe ich doch etwas falsches gesagt?
Doch dann kann ich erkennen, wie sie langsam die Mundwinkel hebt und sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitet. Sie schließt auch ihre bisher noch freie Hand um meine und drückt leicht zu. Dann gibt sie meine Hand vollkommen frei und sofort durchfährt ein kaltes Ziehen meinen Arm. Ich will protestieren und sie wieder berühren, doch ich merke, dass sie Abstand braucht. Ich kann riechen, dass sie glücklich ist. Offenbar waren meine Worte doch nicht so verkehrt. Aber ich kann auch erkennen, dass sie nun Zeit für sich braucht und lasse sie ziehen.

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