24 | Nikan

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Die Begrüßung von Luke und Dean ist relativ knapp ausgefallen. Anders hätte ich es auch nicht erwartet.
Clayton und ich haben die beiden Brüder am Waldrand abgeholt und ihnen dann einen geeigneten Weg durch den Wald gezeigt, der mit dem Auto befahrbar ist. Momentan ist es der einzige Weg, der zur Siedlung führt. Seit dem Sturm sind andere kleinere Straßen unpassierbar geworden, wenn man sich auf vier Rädern fortbewegt, aber das sind Baustellen für später.
“Glaubst du, dass ihre Anwesenheit wirklich helfen wird? Ich meine sie sollen zwar die Position von Vermittlern in diesem Konflikt einnehmen, doch für Henry wird es so aussehen, als hätten wir uns Verbündete gesucht.“ Clayton trommelt mit seinen Fingern auf dem Lenkrad, während er mir seine Gedanken offenbart.
“Wirklich Verbündete sind sie nicht. Henry müsste das wissen, wenn sie erst jetzt auftauchen. Aber vielleicht schreckt ihm die Vorstellung auch ab. Ich glaube nicht, dass er sich mit Silver anlegen möchte“, erkläre ich und werfe einen Blick in den Seitenspiegel, um zu schauen, wie gut der Wagen hinter uns durchkommt.
“Was, wenn es nicht auf eine friedliche Lösung hinaus läuft?“
Entkräftet atme ich aus. Soweit darf es nie kommen. Irgendwie müssen wir Henry dazu überreden das Kriegsbeil niederzulegen und uns in Ruhe zu lassen.
“Dann gibt es nur eine Lösung. Wir bringen alle bei Silver unter, die nicht kämpfen können oder wollen und dann verteidigen wir unser Land. Wir werden uns kein neues Revier suchen, dafür haben wir es zu weit geschafft. Außerdem wird es immer so sein. Irgendwer wird unser Revier immer beanspruchen wollen, weil sie uns nicht als ihresgleichen betrachten. Wir werden immer als streunende Wandler angesehen werden. Ein elendiges Graublut. Ich bin es leid als weniger betrachtet zu werden nur weil wir uns dazu entschieden haben eine Familie zu sein, anstatt hinein geboren zu werden.“ Und ich meine das auch so. Familie geht über meine Ehre, also werden alle jederzeit das Recht dazu haben, sich in Sicherheit zu bringen. Aber, dann werde ich für meine Überzeugungen kämpfen.
“Dann wird es mir eine Freude sein an deiner Seite zu stehen“, gesteht mir mein bester Freund mit einem vorfreudigen Lächeln, dass seinen sonst so unschuldigen Gesichtsausdruck verschwinden lässt.
“Hoffen wir einfach, dass es nicht soweit kommt“, antworte ich und schüttel grinsend über Claytons Kampfeslust den Kopf. Auch er wurde als Alpha geboren und musste sich stets in seinem Leben durchsetzen. Es wundert mich also nicht, dass er ein bisschen Dampf ablassen möchte, wenn unser Rudel bedroht wird.

Die Fahrt dauert nur ein paar Minuten und wir erreichen schnell die Siedlung. River freut sich besonders die Beiden wiederzusehen. Ich habe schon vor der Zeremonie mitbekommen, dass besonders Dean wie ein Bruder für sie ist. Ständig streiten sie sich, doch sind immer liebevoll zueinander. Eine Beziehung, wie sie nur unter Geschwistern existieren könnte. Mit meiner Schwester und meinem Bruder war es auch so, bis ich gegangen bin und sich alles verändert hat. Ich vermisse die Kleinen. Ob ich sie wiedererkennen würde? Es ist schon Jahre her, seit ich sie zuletzt gesehen habe und in denen muss sich viel verändert haben. Aber wahrscheinlich würde ich sie immer wiedererkennen, auch wenn wir grau und alt sind. Ich hoffe natürlich, dass ein Wiedersehen früher stattfinden wird.

Nachdem die ersten Begrüßungen ausgetauscht und das Kennenlernen der Anwesenden erledigt war, haben wir uns in der Küche an den Tisch gesetzt und Rivers zubereitete Köstlichkeiten verspeist.
“Habt ihr euch einen Plan überlegt?“, fragt Luke, der mir gegenüber und neben seinem Bruder sitzt, während er sich eine Gabel von dem Apfelkuchen in den Mund schiebt.
“Wie am Telefon gestern besprochen, werden wir Henry Atlas aushändigen, sobald er uns versichert uns in Ruhe zu lassen“, antworte ich und nehme Rivers halb gegessenes Stück Kuchen, das sie mir von der Seite zuschiebt. Wäre die Situation anders, nur wir zwei und ohne unsere Probleme, würde ich jetzt Schmunzeln und vermutlich auch einen neckenden Kommentar darüber abgeben, dass sie nicht so viel Maisbrot hätte essen sollen, doch so lasse ich die vertraute Geste unkommentiert und freue mich nur innerlich darüber, dass sie ihr Essen mit mir teilt.
“Und wenn er auf den Deal nicht eingeht?“, hakt Dean nach und runzelt erwartend die Stirn.
Das ist eine berächtigte Frage und ich habe mir selbst schon Gedanken darüber gemacht. Sollen wir weiter verhandeln und den Jungen in unseren Keller eingesperrt lassen. So wenig es mir auch gefällt eine Wandler auf Dauer in einem Käfig einzusperren, kann ich ihn schlecht frei herumlaufen lassen oder sogar ohne weitere Druckmittel Henry überlassen.
“Dann haben wir mehrere Optionen“, beginnt Clayton, der direkt neben Dean sitzt und fährt sich mit einer Hand durch seine roten Haare, die einen helleren Ton besitzen, als die von Luke. “Wir behalten Atlas bei uns und schauen wer zuerst aufgibt. Wir können aber auch auf einen Zweikampf hinaus arbeiten, der ein für alle mal entscheiden würde, wem dieses Gebiet zustehen soll. Allerdings glauben wir nicht, dass Henry sich darauf einlassen wird. Alles auf eine Karte zu setzen ist nicht seine Art, besonders wenn er dabei den Kürzeren ziehen könnte. Eine weitere Option wäre, dass wir um unser Gebiet kämpfen.“
“Ihr wollt Krieg?“, fragt Luke mit ruhigem Ton, der jedoch das Entsetzen in seiner Stimme nicht ganz verbergen kann. Seine grünen Augen landen auf mir und in seinem Blick kann ich den Freund erkennen, der er vor einigen Jahren für mich war. Sorge und Fassungslosigkeit spiegeln sich in diesen grünen Augen wieder.
“Das wäre unser letzter Versuch“, gestehe ich und zucke mit den Schultern. Neben mir rutscht River nervös auf ihrem Stuhl hin und her. Ich weiß, dass ihr der Gedanke Angst macht, ich kann es spüren. Der schneller werdende Rhythmus ihres Herzschlages, die minimale Veränderungen ihres Atem, der gepresster wirkt und ihr veränderter Geruch. Angst kann man immer riechen. Also lege ich ihr meine Hand auf den Oberschenkel und reibe beruhigend über den orangenen Stoff ihrer Hose. Sie zu berühren, besänftigt auch meine Seele. Seit den Küssen gestern, waren wir uns nicht mehr so nah. Ich war auf Patrouille, anschließend Frühstück gegessen, habe für ein paar Stunden versucht zu schlafen und bin dann schon mit Clayton los, Dean und Luke abholen.
“Okay, wir werden dann mal unser Zeug aus dem Auto holen und uns auf den Weg zu Henry machen, um ihn zu informieren, dass wir als Vermittler in diesem Konflikt aktiv werden“, teilt uns Luke mit und räumt sein Geschirr zusammen, um es in die Spüle zu stellen.
“Ihr könnt mein und Jespers Zimmer haben“, meldet sich Len zu Wort, der sich bisher Größtenteils aus den Gesprächen herausgehalten hatte.
“Nein“, wirft River ein und alle Blicke liegen auf ihr. “Ich meine ihr könnt meins haben. Ich schlafe bei Nikan.“ Sie lächelt verlegen und ich spüre wie mir ganz heiß wird. Das war eigentlich nicht abgemacht.
“War klar, dass du dein eigenes Zimmer bekommen hast“, stichelt Dean und River grinst ihn bloß unschuldig an und klimpert ein paar Mal übertrieben mit ihren dichten langen Wimpern.
“Wenn du etwas kaputt machst erzähle ich Milena, was an Mabon letztes Jahr passiert ist.“ Zuckersüß und unschuldig strafft sie ihre Schultern und streicht sich ihre schwarzen Haare hinter die Ohren.
“Das wagst du nicht!“ Mit zusammengekniffenen Augen und einem auf River gerichteten Finger, schaut Dean sie an, doch diese zuckt bloß mit den Schultern.
“Das reicht jetzt. Danke, dass du uns dein Zimmer überlässt. Dean wird nichts kaputt machen und River erzählt Milena nichts von Mabon“, bestimmt Luke, doch lacht dabei, da er offensichtlich weiß, was letztes Jahr zur Herbsttagundnachtgleiche passiert ist.
Bevor auch nur einer der beiden ein weiteres Wort verlieren kann, wird die Haustür gewaltsam geöffnet und wir springen alarmiert auf, nur um gleich darauf einen blutenden Mato in die Küche stürmen zu sehen.
“Was ist passiert?“, frage ich besorgt, doch versuche einen ruhigen Ton zu behalten.
“Er hat sich mit einem von Henrys Männer geprügelt“, erklärt Noah, der ebenfalls die Küche betritt. Beide Jungs waren für die Wache eingeteilt.
“Ich gehe den Verbandskasten holen“, murmelt Len wenig überrascht und erhebt sich von seinem Platz.
Mato setzt sich an das Ende des Küchentisches und wischt sich mit dem Handrücken über seine aufgeplatzte Lippe. Er dreht sich zu Len um und ich kann hören wie River neben mir scharf die Luft einzieht. Ein kurzer Blick zu Luke und Dean verrät mir, dass auch sie Matos vernarbter Rücken nicht kalt lässt. Es stammt von seiner Zeit im alten Rudel und hat nichts mit der aktuellen Auseinandersetzung zu tun. Doch anhand Rivers Reaktion nehme ich an, dass sie Mato noch nie ohne T-Shirt gesehen hat. Er muss sich nach der Verwandlung einfach seine Hose übergezogen haben und ist dann hier her gestürmt.
“Ist halb so wild Len“, murmelt Mato, weil seine untere Lippe angeschwollen ist, doch Len lässt sich nicht aufhalten und holt den Verbandskasten.
“Wie ist das passiert?“, möchte ich erneut wissen und trete näher auf meinen Freund zu, um mir seine Verletzungen anzusehen. Eine aufgeplatzte Lippe, seine rechte Wange ist aufgeschürft und die Knöchel an beiden Händen aufgeplatzt. Offensichtlich fand der Kampf in seiner menschlichen Gestalt statt. Warum zur Hölle war er als Mensch bei der Patrouille unterwegs?
“Wir sind am nordwestlichen Teil des Reviers entlang die Grenze abgelaufen und sind auf einen von Henrys Leuten gestoßen. Er hat geknurrt und wollte uns provozieren, dann hat er sich verwandelt und Scheiße über Olivia und River erzählt, da ist Mato ausgerastet“, erklärt Noah und zuckt entschuldigend mit den Schultern.
“Auf wessen Gebiet ist das passiert?“ Clayton kratzt sich besorgt an der Stirn. Einen weiteren Konflikt können wir jetzt wirklich nicht gebrauchen. Mit Atlas in unserer Gewalt haben wir ein Druckmittel, doch nun könnte uns dieser Vorteil schneller aus den Händen gleiten als mir lieb ist.
“Auf beiden würde ich sagen“, antwortet Noah und zuckt erneut entschuldigend mit den Schultern. Auch sein Blick verrät mir, dass es ihm wahrlich leid tut. Er weiß, dass wir solche Auseinandersetzung jetzt nicht gebrauchen können. Aber Mato kann ich es nicht verübeln, er hat River und Olivia verteidigt. Wenn ich da gewesen wäre und mitbekommen hätte, dass jemand schlecht über River oder ein anderes Mitglied meines Rudels redet, wäre ich auch ausgerastet.
“Hier“, sagt River und hält Mato einen Beutel mit Eis hin, den sie mit einem Tuch umwickelt hat, damit er seine geschwollene Lippe kühlen kann.
Er bedankt sich und schenkt ihr einen warmen Blick, bei dem ich wahrscheinlich eifersüchtig geworden wäre, wenn jemand außerhalb des Rudels sie so angesehen hätte. Doch Matos Augen tragen nur den Schimmer der Liebe, die man für ein Familienmitglied empfindet.
Len betritt wieder den Raum, unter den Arm den Verbandskasten und macht sich ohne ein weiteres Wort an die Arbeit Matos Wunden zu versorgen.
“Das ist halb so wild. In drei Tagen ist alles verheilt“, beschwert sich dieser, als Len seine Fingerknöchel säubert, die voll mit Erde sind.
“Ja, und weniger als zwei Tagen, wenn ich mich drum kümmere. Also halt jetzt still.“
Luke und Dean, die die ganze Zeit kein Wort gesagt haben, werfen sich nun einen Blick zu und nicken dann.
“Wir werden uns gleich auf den Weg machen und schauen, ob wir schlimmeres verhindern können. Henry hat sich hoffentlich Gedanken über euer Angebot gemacht. Sollte dem nicht so sein, versuchen wir ihm ins Gewissen zu reden“, informiert uns Luke.
“Ich schicke euch zwei der Jungs mit. Der Weg durch den Wald zu Henry ist zu gefährlich, wenn er euch nicht erwartet. Ihr müsst mit dem Auto bis zur nächsten Stadt fahren und dann ein paar Meilen später eine Abzweigung westlich nehmen. Bis dahin können sie euch den Weg zeigen, danach seid ihr auf euch alleine gestellt. Der Weg ist länger, aber sicherer. Henry wird wissen, dass es etwas offizielles ist und ihr ihn nicht angreifen wollt oder bewusst unbefugt sein Gebiet betretet“, erkläre ich und nicke Noah zu, um ihm zu signalisieren, dass er einer der Männer sein wird, der die Brüder begleitet. “Schau nach Ian, ob er ausgeschlafen hat und kläre ihn über die Lage auf, dann kann er dich begleiten.“
“Wird gemacht“, bestätigt mir der Blondhaarige und macht sich schon auf den Weg in das obere Geschoss des Hauses.

MoonshadowTempat cerita menjadi hidup. Temukan sekarang