21 | River

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Noch immer liege ich wach in meinem Bett. Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich den halben Tag verschlafen habe, aber ebenso wahrscheinlich liegt es an den jüngsten Ereignissen. Besonders der knappe Wortwechsel mit dem Jungen in dem Keller unten. Atlas. Der Junge, der mich angegriffen hat. Noch immer weiß ich nicht, wie ich mich deswegen fühlen soll. Keine Ahnung, wie ich das beschreiben soll, doch der Angriff fühlt sich unwirklich an. Nicht einmal Schmerzen habe ich an meinen zerschundenen Körperstellen, die mich an die Tat erinnern würden. Lediglich ein unangenehmes Ziehen oder der juckende Verband, erinnern mich daran, dass überhaupt etwas passiert ist.
Das schwache Mondlicht scheint durch mein offenes Fenster und wirft Schatten in das dunkle Zimmer. Ich drehe mich auf die Seite, um eine bequemere Position einzunehmen.
Nach dem ersten Gespräch mit Atlas ist Nikan still geworden. Er hat mit niemandem geredet und sich dann dazu bereit erklärt die nächsten Stunden die Grenzen zu bewachen. Aber er ist immer noch nicht zurückgekehrt. Das müsste nun sieben Stunden her sein. Die halbe Nacht ist bereits verstrichen, im Haus ist es Still und meine Gedanken wollen nicht aufhören mich jede einzelne Sekunde des vergangenen Tages erneut erleben zu lassen. Auf der Suche nach einem Detail, einer Begründung oder irgendetwas, dass es realistischer macht. Es ist nicht greifbar für mich. Wie konnte ich überhaupt so unvorsichtig sein? Ich habe mich von einem jungen Wolf angreifen lassen. Nicht einen Augenblick war ich wachsam gewesen, obwohl ich wusste, dass ich auf einem Gelände gelaufen bin, dass ich nicht kenne. Meine Instinkte hätten mir signalisieren müssen, vorsichtig zu sein. Wo waren meine Instinkte?

Als das Knarren der Treppenstufen ertönt, horche ich auf und versuche herauszufinden, wer den Gang entlang läuft. Nikan. Es ist ganz unverkennbar sein Herzschlag, sein Geruch und die Anziehung unserer Seelen. Doch bevor ich aufstehen kann, um zu ihm zu gehen, höre ich schon wie sich die Badezimmertür schließt und die Dusche angestellt wird.
Also warte ich.
Ich werfe meine Bettdecke zurück, steige aus dem Bett und berühre mit meinen nackten Füßen den Dielenboden. Vor dem Fenster bleibe ich stehen, der Traumfänger dreht sich leicht im Wind und ich blicke durch das schwache Mondlicht in den düsteren Wald. Ich lausche den Geräuschen der Nacht, doch konzentriere mich viel mehr auf die Geräusche aus dem Zimmer gegenüber. Ich möchte mit Nikan reden und nicht verpassen, wenn er in seinem Zimmer verschwindet, denn ich weiß nicht, ob ich dann noch den Mut besitze, meine Bitte in die Tat umzusetzen. Lächerlich, dass ich überhaupt darüber nachdenke. Ich bin seine Gefährtin und sollte nicht beschämt sein, bei den Gedanken mich nach seiner Nähe zu sehnen.
Als das rauschende Wasser nicht mehr zu hören ist, bewege ich mich auf leisen Solen zur Tür und öffne sie im gleichen Moment, wie auch Nikan die Badezimmertür öffnet. Bei seinem Anblick bleibt mir glatt meine Frage im Hals stecken. Nackt, nur mit einem dunkelgrauen Handtuch um die Hüfte gewickelt, steht er mir gegenüber und durch das gedimmte Licht aus dem Gang zwischen uns, kann ich noch einzelne Wassertropfen auf seiner bronzefarbenen Haut ausmachen.
“Du bist noch wach“, stellt er fest, fährt sich mit der Hand durch sein noch feuchtes schwarzes Haar und schließt anschließend die Tür hinter sich.
Er betrachtet nun auch mich eindringlicher und scheint auf eine Antwort zu warten, die ich ihm gebe, als ich meine Stimme wiederfinde: “Ich habe heute schon zu viel geschlafen. Außerdem habe ich gewartet bis du von der Patrouille zurück bist.“
“Auf mich?“
“Ja, ich wollte dich fragen, ob du Lust hast die Nacht bei mir zu verbringen.“ Meine Worte verlassen nur leise meinen Mund und ich wage es kaum Nikan in die Augen zu schauen, doch entgegen meiner Erwartungen, macht er sich nicht lustig, macht keine herausfordernde Bemerkung oder zeigt auch nur den Hauch von Freude. Nein, stattdessen ist sein Blick undurchdringlich und er antwortet: “Warte kurz. Ich ziehe mir schnell was über“, und dann verschwindet er in seinen Zimmer und bevor ich mir Gedanken über unseren kurzen Wortwechsel machen kann, steht er auch schon voll bekleidet vor mir. Das graue Handtuch hat er gegen eine schwarze Jogginghose und ein dunkelgrünes T-Shirt gewechselt.
Als wir mein Zimmer betreten, macht sich Nikan schon auf den Weg zu meinem Lesesessel, in dem ich seit meiner Ankunft hier kein einziges mal gesessen habe, doch ich halte ihn auf.
“Du kannst dich neben mich legen.“ Meine Stimme hat wieder mehr an Kraft gewonnen und auch Nikan zeigt nun den Hauch einer Reaktion. Zuerst kann ich die Überraschung erkennen, seine Augenbrauen habe sich leicht gehoben, doch dann ziert ein winziges Lächeln seine Mundwinkel und er steuert das Bett an.
Ich liege bereits unter der Decke als er sich links neben mich legt, dort wo meine Schulter nicht verletzt ist, und ich ihm anbiete, sich mit mir unter die Decke zu legen.
“Du bist so großzügig heute“, scherzt er, doch ich kann einen bitteren Ton heraushören. Meine Zurückweisungen haben wohl einen tieferen Eindruck hinterlassen, als ich angenommen hatte.
Aber ich lasse seine Worte unkommentiert und drehe mich auf die Seite, um Nikan in die Augen zu sehen. Unsere Körper berühren sich nicht, doch bereits jetzt herrscht unter der Decke eine solche Hitze, dass mir der Schweiß im Nacken steht.
“Es tut mir leid“, gestehe ich nach einigen Momenten der Stille, in denen meine blauen Augen seine braunen gemustert haben, unfähig mich diesen verzehrenden Blicken zu entreißen.
“Was tut dir leid?“, möchte Nikan sichtlich verwirrt wissen und richtet sich ein wenig auf. Ich hingegen lege mich wieder auf den Rücken, weil ich ihm nicht beschämt ins Gesicht blicken kann.
“Dass ich nicht aufmerksam genug war. Dass ich mich nicht gewehrt habe. Dass es überhaupt passiert ist.“ Und da ist es. Dieses Gefühl, dass ich die ganze Zeit nicht greifen konnte. Schuld. Nicht Schmerz, nicht Wut und auch nicht Angst. Schuld.
“Das glaubst du doch nicht wirklich? River? Das war absolut nicht deine Schuld!“
Ich kann seinen Blick auf mir spüren, doch ich schaffe es nicht ihn zu erwidern.
“River, sieh mich an“, bittet Nikan, legt mir eine Hand an die Wange und sein Kopf erscheint über mir, nachdem ich mich noch immer weigere ihn anzuschauen. “Das. War. Nicht. Deine. Schuld. Verstanden?“
“Es ist egal, wie oft du das wiederholst. Ich weiß, dass es meine Schuld ist. So wie ich aufgewachsen bin, habe ich gelernt den Wolf in mir stets mehr Platz einzuräumen. Ich habe gelernt meinen Instinkten zu vertrauen und teilweise Tage lang als Tier im Wald verbracht. Wir haben gelernt zu kämpfen und der Hierarchie zu folgen. Man hat uns beigebracht, dass der menschliche Teil in uns schwach ist und uns verwundbar macht. Ich habe Jahre lang nach diesen Regeln gelebt und nachdem ich mit Mara bei Silver gelandet bin, habe ich gesehen, dass es Schwachsinn war zu glauben, der Mensch in uns macht uns schwach. Ich habe gesehen, dass der menschliche Teil uns Freiheit schenkt. Die Freiheit zu tun, was wir wollen. Doch jetzt, jetzt war ich schwach. In den vergangenen zwei Jahren habe ich verlernt wie man kämpft, wie man wachsam ist und wie stark ich eigentlich bin. Ich habe nicht aufgepasst und wurde angegriffen. Dem Jungen kann ich keine Vorwürfe machen. Er wollte nichts böses. Aber ich? Ich habe mich nicht einmal gewehrt! Ich war schwach und habe euch allen Sorgen bereitet und was weiß ich nicht, was für Konsequenzen noch auf uns zukommen werden, weil ich so unachtsam war. Und du? Du hast gelitten. Du leidest immer noch. Ich kann es spüren. Den Schmerz den ich dir bereitet habe. Es tut mir so leid, Nikan.“
Es war töricht zu glauben, dass das alles spurlos an mir vorbei geht. Wie konnte ich nur so naiv sein? War doch klar, dass ich irgendwann zusammenbrechen würde.
Dass ich angefangen habe zu weinen ist mir gar nicht aufgefallen. Erst jetzt, wo mir Nikan die Tränen sanft von der Wange streift, realisiere ich, was ich ihm da gestanden habe. Die Schrecken meiner Vergangenheit. Nicht alles, aber erneut ein Stück mehr und es ist auch das erste Mal, dass ich realisiere, wie sehr mich meine Vergangenheit immer noch beschäftigt. Die Gewalt, der Missbrauch, die Kälte, der Verlust.
“Es war nicht deine Schuld“, flüstert mir Nikan mit rauer Stimme zu und als ich schon widersprechen möchte, ergänzt er: “Es war nicht deine Schuld und ich werde dir das so oft sagen, bis du es selbst glaubst.“ Seine braunen Augen verweilen einen Moment auf meinem Gesicht, bevor er sich zu mir herunter lehnt und beginnt Küsse auf meine Wangen zu verteilen, überall dort, wo sich eben noch Tränen befunden haben. Diese Geste sorgt dafür dass sich doch tatsächlich Licht in mir ausbreitet und die dunklen Gedanken und Erinnerungen von eben vertreibt.
Ein Kuss, ein Funken.
Zehn Küsse, ein ganzes Feuer.
Und er hat bisher nur meine Wangen geküsst. Ich kann mir gar nicht vorstellen, was es in mir auslöst, wenn wir uns richtig küssen, wenn ich ihn berühre, wenn er mich markiert. . .
Diese Gedanken kommen plötzlich und so erschreckend es sich anfühlt, glaube ich meine Zukunft vor mir zu sehen. Nikan. Der Mann, der mein Gefährte ist. Mein Gefährte. Es fühlt sich ungewohnt an, diese Dinge wahrhaftig zu glauben. Bisher wusste ich es. Ich wusste, was es bedeutet von dem ersten Moment an, als ich ihn wütend aus Silvers Büro habe stürmen sehen, doch nun glaube ich es. Ich sehe es vor mir. Ich kann es mir vorstellen, wie es ist ein Leben an seiner Seite zu führen. Mit ihm zu führen.
Sanft lege ich meine Hand auf seine, die noch immer an meinem Kiefer ruht und sorge dafür, dass Nikan seine Küsse unterbricht. Er entfernt sich wieder ein wenig, doch nur so weit, dass er mir in die Augen schauen kann und da kann ich es erkennen. Die Gefühle, die Liebe, die er für mich empfindet. Es wird noch eine Weile dauern bis ich vollends seine Gefühle erwidern kann, doch schon jetzt besitzt das Band unserer Seelen eine solche Energie, die es mir unmöglich macht, mich je wieder von ihm trennen zu wollen.
Wie erstaunlich es doch ist, dass die Vergangenheit und Zukunft so nah beieinander liegen. Eben noch habe ich meinen alten Leben hinterher geweint, sowohl das im Redbone Rudel als auch das im Williams Rudel, doch genau hier liegt meine Zukunft.
Weil ich auf Nikans fragenden Blick nichts sagen kann, weil mir dafür noch die Worte fehlen, drücke ich ihn auf die Matraze, hebe seinen Arm, platziere ihn vorsichtig um mich und kuschel mich an seine Brust. Für einen Moment scheint Nikans Herzschlag ausgesetzt zu haben, doch als es rasend gegen seinen Brustkorb springt, weiß ich genau, dass er es verstanden hat.
Sein Griff um mich wird fester, dennoch darauf bedacht meine Verletzungen am Oberkörper nicht zu berühren und er drückt mir noch einen allerletzten Kuss auf die Stirn, bevor ich mit dem Ton des gleichmäßigen Schlagen seines Herzens einschlafe.

MoonshadowWhere stories live. Discover now