22 | Nikan

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River hängt seit einer Stunde am Telefon und versucht ihre Schwester zu beruhigen. Bis ins kleinste Detail musste sie ihr erzählen, was passiert ist. Ich sitze mit den anderen im Wohnzimmer und gemeinsam beraten wir, wie es nun weiter gehen soll. Dennoch gelingt es mir nicht, meine Konzentration vollkommen auf die Personen vor mir zu richten. Immer wieder ertappe ich mich dabei, wie ich Rivers Stimme nebenan im Konferenzraum belausche.
“Wir müssen mit Silver sprechen und ihr die Dinge aus unserer Perspektive berichten“, erklärt Clayton nachdenklich und mit ernstem Gesichtsausdruck. Er weiß, dass ich zu emotional gebunden bin, um eine kühlen und klaren Kopf zu bewahren. Deswegen bin ich umso dankbarer, dass er die Führung in dieser Situation übernimmt.
“Wir müssen auch herausfinden, wann sie die Vermittler zu uns schicken möchte und wer das sein wird. Wir haben so schon kaum Platz in diesem Haus und mit zwei weiteren Personen unter dem Dach kommt es bloß zu unnötig Auseinandersetzungen. Außerhalb des Hauses können wir aber auch niemanden einquartieren. Nicht unsere Gäste und auch niemanden von uns. Wir müssen zusammen bleiben“, bestimmt Len und holt sich ein zustimmendes Kopfnicken der anderen.
“Wir könnten zwei Leute mehr zur Grenzpatrouillie schicken. Das setzt ein Zeichen und verschafft uns zwei leere Betten“, schlage ich vor. “Allerdings müssen wir bald wieder in die Stadt Vorräte besorgen und Geld auftreiben. Ausgerechnet jetzt, wo wir zusammenbleiben müssen.“
“Ich könnte mit Ian in die Stadt fahren und Vorräte besorgen. Wenn zusätzliche Patrouillien aufgestellt werden, kann sich immer einer an der Grenze in der Nähe der Stadt aufhalten und uns informieren, wenn sich die Lage ändern sollte“, schlägt Olivia vor.
“So werden wir es machen. Wenn Ian von seiner Schicht abgelöst wird, sollte er sich ein paar Stunden ausruhen, dann könnt ihr morgen früh los fahren. Besorgt nur das Nötigste und versucht nicht länger als drei Stunden weg zu bleiben“, beschließt Clayton und fährt sich mit einer Hand durch seine roten Haare, bevor er mit der selben Hand seinen Nasenrücken massiert. Er ist erschöpft. Wir alle sind erschöpft. Die Situation belastet uns psychisch und ich fürchte es wird noch schlimmer werden. Ständig unter Stress zu stehen und nicht zu wissen wann und ob wir mit einem Angriff zu rechnen haben belastet die Nerven. Zu meinem Glück habe ich River. Als sie vorhin versucht hat meine Faust zu lösen und ihre schmalen Finger zwischen meine geglitten sind, war es als hätte sie das Tier in mir gezähmt. Einfach so. Die Wut auf Henry und seine Beleidigungen waren nicht vergessen, aber ihre Berührungen haben es erträglicher gemacht. Es hat mir Kraft gegeben. Eine Kraft, die unserer Seelenverbindung entspringen muss. Eine Kraft, die viele in unserem Rudel nicht nutzen können.
“Was machen wir mit Atlas?“, fragt Len, der bisher am meisten Kontakt zu dem Jungen im Keller hatte. “Seine Wunden müssten in drei Tagen verheilt sein, dann bleiben vielleicht nur noch ein paar blaue Flecke und oberflächliche Narben. Wir können ihn aber nicht ewig in diesem Käfig gefangen halten. Er muss jagen und sich bewegen können, sonst haben wir bald ein riesen Problem und das genau unter unserem Dach.“
“Wir können ihn schlecht frei herumlaufen lassen“, argumentiert Mato.
“Wenn die zwei Vermittler aus Silvers Rudel angekommen sind, können wir ihn bewacht ein paar Minuten auf unserem Gelände jagen lassen. Weit weg von den Grenzen versteht sich“, schlägt Antonio vor, der sich nach vorn gebeugt hat und seine Arme nun auf den Oberschenkeln abstützt.
“Etwas anderes wird uns nicht übrig bleiben“, stimme ich ihm zu und wir alle verfallen in ein nachdenkliches Schweigen.

Weil ich mitbekommen habe, dass River das Telefonat beendet hat, bin ich aufgestanden und warte jetzt an der Tür auf sie.
“Alles in Ordnung?“ Obwohl sie nicht ganz so müde und abgeschlagen aussieht, wie wir anderen, mache ich mir dennoch Sorgen. Ihre blauen Augen funkeln nicht wie sonst, wenn sie mich an das Glitzern des Schnees im Winter erinnern, auf den die Sonne scheint.
“Ja, Mara wollte nur nicht locker lassen. Sie war drauf und dran ihre Sache zu packen und herzukommen. Aber ich konnte ihr das ausreden. Ich habe ihr versichert, dass wir das schon hinbekommen“, antwortet sie und blickt nervös zwischen mir und einem Punkt hinter mir hin und her. Mir ist schon aufgefallen, dass sie seit einigen Tagen anders auf mich reagiert. Besonders vorhin, als mir eine Welle ihres Verlangens entgegen geschwungen ist. Ganz plötzlich, ohne Vorwarnung und ohne es von mir bewusst zu provozieren. Wir waren in einem Raum mit den anderen und dennoch hat sie mir unmissverständlich signalisiert, dass sie mehr als nur eine Umarmung möchte. Ihr Herz hat so wild gegen ihren Brustkorb geschlagen, dass ich mir beinahe Sorgen gemacht hätte. Und die Hitze, die ihr Körper ausgestrahlt hat. Ich könnte schwören es sind glatt ein paar Grad wärmer im Raum geworden. Dennoch habe ich sie fester an mich gezogen und ihre Hitze in mich aufgenommen. Eine Gänsehaut hat sich auf meinem ganzen Körper ausgebreitet und mir war sowohl heiß als auch kalt. So etwas habe ich noch nie gespürt.
Wir. Du hast dich also daran gewöhnt, dass wir dein Rudel, deine Familie sind“, bemerke ich und versuche nicht einmal meine Freude zu verbergen.
“Ja, mir ist bewusst geworden, wie sehr ihr mir alle am Herzen liegt. Ich bin froh, dass ich angegriffen wurde und keiner von euch. Allein die Vorstellung, dass einer von euch verletzt worden wäre. . .“ River schüttelt den Kopf, als könnte sie so ihre Gedanken beseitigen.
“Hey, so darfst du nicht denken. Es würde die anderen zwar mit Stolz erfüllen, wenn sie wissen wie viel sie dir bedeuten, dennoch hätte es gar nicht so weit kommen dürfen“, sage ich und nehme ihr Gesicht zwischen meine Hände, damit sie mich ansehen muss und aufhört nervös ihren Blick schweifen zu lassen.
“Ich weiß“, flüstert sie und starrt mich mit glasig werdenden Augen an.
“Na komm. Len möchte sich deine Wunden ansehen und wir sollten etwas essen.“

MoonshadowWhere stories live. Discover now