26 | Nikan

346 29 0
                                    

Er sieht besser aus. Seine dunkelblonden Haare kleben nicht mehr vor Schweiß an der Stirn. Die blasse Hautfarbe hat wieder seinen gesunden rosa Schimmer und die Wunden sind verheilt. Nur seine grünen Augen schauen mir hoffnungslos entgegen. Fast würde ich Mitleid bekommen, doch es steht Größeres auf dem Spiel.
Wäre die Situation anders, würde ich seine Entschuldigung akzeptieren und darauf hoffen dass River es auch tut. Dann könnten wir ihn frei lassen und mit der Warnung, dass er sich nie wieder an unseren Grenzen blicken lassen soll, aus den Gedanken streichen.
Aber egal mit welcher Intention Atlas gehandelt hat, er hat den Konflikt zwischen Henry und uns verschlimmert.
Ich bin in den Keller gekommen, um Atlas zu informieren, was gerade passiert und welche Auswege ihm bevorstehen. Doch er sitzt bloß in der Ecke seines Käfigs und starrt mich mit diesen leeren Augen an. Er hat offensichtlich schon eine Ahnung, wie dieser Konflikt enden wird. Da ist er mir einen Schritt voraus, denn ich habe keinen blassen Schimmer, was uns bevorsteht. Was also macht ihn so sicher? Warum kämpft er nicht? Wieso wehrt er sich nicht?
Dass ihm eine Strafe droht, müsste jedem klar sein, doch er zeigt überhaupt keinen Lebenswillen. Ich habe nie geäußert, dass wir ihn umbringen werden. Nicht einmal gedroht habe ich damit. Sicherlich, das ein oder andere Mal kam mir der Gedanke, aber das ist meilenweit entfernt von der Realität. Ich bringe keinen Teenager um, weil er einen Fehler gemacht hat.
Zu seinem Pech hat sein Handeln dazu geführt, dass er ein Spielstein in einem Jahre andauernden Revierkampf geworden ist.

“Wir werden dich morgen für ein paar Minuten raus lassen, damit du an die Luft und dich ein bisschen bewegen kannst“, informiere ich ihn und als ich keine Reaktion erhalte, hebe ich misstrauisch eine Augenbraue. “Ich weiß nicht, was Henry euch über uns erzählt hat, aber wir sind keine Monster. Du wirst zwar jederzeit bewacht werden, damit du nicht fliehen kannst, aber ich gebe dir mein Wort, dass weder ich noch jemand anderes aus dem Rudel dir etwas antun wird.“
Wieder keine Reaktion. Nur diese hoffnungslosen grünen Augen. Vielleicht wird ihm die frische Luft morgen wieder mehr Hoffnung geben.
Ich bin ein Alpha von einem fremden Rudel. Er wird meinen Worten vermutlich nie glauben. Also müssen Taten sprechen.
“Nikan, sie sind gleich zurück“, informiert mich Jesper, der den Kopf zur Kellertür hineinsteckt und ich wende mich mit einem letzten Blick auf Atlas ab, gehe die paar Stufen in das Erdgeschoss hoch und schließe die Tür hinter mir.
Luke und Dean waren fast vier Stunden weg. Die Sonne steht tief am Himmel und wird schon bald zwischen den Bäumen verschwinden. Ich hoffe, dass sie wenigstens mit guten Neuigkeiten zurück kommen.
Antonio und Len sind auf Patrouille. Olivia konnten wir nicht davon abhalten mitzugehen. Aber es hat auch niemand gewagt sie zu überreden. Ian, ihr Gefährte, ist ohne Schutz da draußen und sie möchte in der Nähe sein, wenn etwas passiert. Ich bezweifle, dass es zu einem Angriff kommen wird, während Dean und Luke mit Henry sprechen, aber es geht hier um ihren Gefährten und wenn es River wäre, würde ich genauso handeln.

Im Wohnzimmer haben sich mittlerweile die anderen versammelt. Clayton steht mit verschränkten Armen vor der Brust am Fenster und schaut hinaus. Mato sitzt auf dem kurzen Ende des Sofas und wippt nervös mit dem Bein, während er mit den Fingern an der Wunde an seiner Lippe herumspielt. Es ist verständlich. Bei allen liegen die Nerven blank. Wir setzen viel Hoffnung auf dieses Gespräch.
Jesper läuft ungeduldig im Raum auf und ab. Gelegentlich bleibt er an einem Regal stehen und nimmt ein Buch in die Hand oder schaut sich ein Bild an. Bin ich froh, wenn das alles vorbei ist und wir uns auf unser Rudel konzentrieren können. Wir müssen Häuser bauen, die Energieversorgung verbessern und uns überlegen wie wir an mehr Geld kommen. Das was wir mit dem Verkauf von Brennholz verdienen ist nicht ausreichend, um das wachsende Rudel zu versorgen. Wir brauchen dauerhafte Lösungen und das heißt einige von uns müssen sich in der Stadt Arbeit suchen. Aber dafür wohnen wir zu weit außerhalb. Wir müssten dementsprechend Häuser am Waldrand unseres Revieres bauen. Aber das sind Probleme, auf die ich mich konzentrieren muss, wenn unsere Zukunft gesichert ist.

MoonshadowWhere stories live. Discover now