39 | River

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Wir befinden uns an der gleichen Stelle, wie vor zwei Tagen. Der einzige Unterschied, alle aus dem Rudel sind anwesend und Henry und Isabella stehen auf unserer Seite des Flusses.
„Ich sehe ihr habt Atlas mitgebracht, das heißt ihr stimmt meiner Bedingung zu", spricht Henry und grinst zufrieden. Ich bin ihm bisher nur ein paar Mal begegnet, doch jedes Mal bin ich überrascht, denn ich kann diesen Mann nicht einschätzen. Seine Handlungen sind unvorhersehbar, seine Worte arrogant, doch seine Taten deuten darauf hin, dass er ein guter Alpha ist, zumindest für sein Rudel.
„Wir haben uns besprochen und beschlossen, deiner Bedingung zuzustimmen, wenn es keinen Haken gibt. Wir sind nicht automatisch in einer Allianz mit dir. Du kannst uns nicht auf Bestellung zu dir rufen und von uns verlangen, dass wir für dich kämpfen", bestätigt Nikan und klärt damit auch unsere Sorgen.
Henrys Kopf ist geneigt, überlegend und abwartend wie das Raubtier, das er ist. Dann nickt er Isabella zu und sie holt etwas aus ihrer hinteren Hosentasche. Eine Papierrolle.
„Ich habe mir die Freiheit herausgenommen und bereits einen Vertrag angefertigt", sagt er, als er die Rolle entgegennimmt.
„Natürlich hast du das." Nikan schnaubt verächtlich, blickt mich kurz an, doch wartet dann auf Henrys nächsten Worte.
„Lest ihn euch durch. Ich stehe zu meinem Wort. Was hier steht wird Inhalt unserer Abmachung und nichts anderes." Er überreicht Nikan vier Schriftstücke, von denen er eine an Dean und Luke weitergibt, die restlichen zwischen uns aufteilt. Eines der Blätter behält er selbst in der Hand und Clayton und ich treten näher an ihn heran, um selbst einen Blick darauf zu werfen.
Wir nehmen uns Zeit. Es ist ein einfacher Vertrag, am Computer geschrieben. Unsere und Henrys Bedingungen sind schön ausformuliert aufgelistet. Unten befinden sich vier Linien. Zwei von ihnen für die Unterschriften der Alphas und zwei für die Unterschriften unserer jeweiligen Zeugen. Luke und Isabella.
Ich kann keine versteckten Fallen entdecken, die uns in etwas hineinziehen würden, dem wir nicht zugestimmt haben.
Henry ist geduldig, sagt kein Wort und wartet bis wir fertig mit lesen sind.
Der Tag heute ist bewölkt. Nachdem es gestern Abend geregnet hat, ist die Erde Nass und in der Luft liegt ein herrlicher Duft nach feuchtem Holz und Laub. Wind weht mir durch die Haare und ich bereue es sie nicht zusammengebunden zu haben.
Nachdem auch Nikan fertig mit Lesen ist, wirft er Clayton einen Blick zu. Sie unterhalten sich stumm. Dann schaut Nikan Luke an und auch sie verständigen sich ohne Worte.
„Der Vertrag ist in Ordnung", bestätigt er schließlich und gibt Henry die Papierstücke zurück.
„Wir werden sie traditionell Unterzeichen", teilt er Nikan mit. „Etwas dagegen?" Doch dieser schüttelt nur mit dem Kopf.
Traditionell heißt mit einer gewöhnlichen Unterschrift und einem Blutstropfen des Unterzeichners.
Nikan, Henry, Luke und Isabella machen sich auf den Weg zu einem Baum, den sie als Unterlage nutzen können, um den Vertrag zu unterzeichnen.
Die Stimmung ist merkwürdig. Angespannt und doch gleichzeitig erwartungsvoll, denn diese Unterschriften versprechen Frieden.
Zuerst unterzeichnen alle ganz gewöhnlich. Vier Unterschriften auf vier Blättern. Weil sie sie gegen einen Baumstamm halten, sind sie zerknittert und von hinten bestimmt schmutzig, aber das scheint keinen zu stören. Der Inhalt ist das was zählt.
Anschließend holt Henry ein Taschenmesser aus seinem Stiefel und er ist der erste der sich in den Daumen schneidet und auf allen vier Verträgen einen Blutstropfe neben seine Unterschrift tropfen lässt. Nikan folgt ihm, anschließend Isabella und zum Schluss Luke.
Damit ist es besiegelt und bezeugt. Es herrscht Frieden zwischen den beiden Rudeln. Leichtigkeit breitet sich zwischen allen aus und zu meiner Überraschung kann ich beobachten, wie alle vier sich die Hand geben und anschließend jeweils eines der Schriftstücke erhalten.
„Atlas komm, deine Mutter wird sich freuen dich wiederzusehen", spricht Henry als er auf uns zu kommt und den Jungen erwartungsvoll anblickt. Er zögert kurz und schaut mich reuevoll an. Es scheint ihn immer noch zu beschäftigen, dass er mich angegriffen hat. Also lächle ich ihm kurz zu, was ihn nach einem knappen Kopfnicken auch dazu bewegt auf Henry zu zugehen. Beide überqueren ohne ein weiteres Wort oder letzten Blick den Fluss an einer flachen Stelle.
„Es hat mich wirklich gefreut euch kennenzulernen", sagt nun Isabella als Nikan neben mich tritt und einen Arm um meine Schulter legt. Er sieht erleichtert aus, aber irgendwas scheint ihn immer noch zu beschäftigen.
„Ich hoffe das nächste Mal, wenn wir uns sehen, wird aus freudigeren Umständen sein", antwortet Nikan.
„Das hoffe ich auch", stimmt die blonde große Frau zu und lächelt uns alle an. Strahlend mit ihrer Persönlichkeit unterstützt sie dieses Gefühl der Leichtigkeit, das nach und nach stärker zu werden scheint.
Wir verabschieden uns mit ein paar letzten Worten bis auch sie wieder den Fluss überquert und mit ihren beiden Gefährten zwischen den Bäumen verschwindet.
„Ihr wisst was das heißt?", fragt Mato mit einem breiten Grinsen in die Runde. „Heute Abend wird gefeiert!", beantwortet er sogleich jubelnd und stürzt sich energiegeladen mit den anderen in den Wald. Sie jubeln und heulen, ihre schnellen Schritte sind auf dem weichen Waldboden deutlich zu hören, doch sie sind glücklich und lachen und dieses Gefühl ist ansteckend.
Nur Clayton, Nikan und ich bleiben zurück.
„Ich habe immer noch das Gefühl, dass Henry jeden Moment wieder auftaucht und sagt, dass das alles nur ein blöder Witz war", gesteht Nikan und da ist es auch schon, was ihn noch zu schaffen macht.
„Dieses Gefühl wird noch eine Weile bleiben", antwortet Clayton, haut seinem Freund aber beruhigend auf den Rücken.
„Er kann es versuchen, aber seine Unterschrift und sein Blut bindet ihn an diesen Vertrag", rede ich ihm zu. Auch ich habe das Gefühl, dass alles viel zu einfach war. Aber manchmal muss man Vertrauen in das Leben haben. Schließlich hat es mich zu Nikan geführt.
„Wir haben gar nicht festgelegt, was passiert, wenn eine Partei den Vertrag brechen sollte", grübelt er weiter, doch Clayton findet auch dafür beruhigende Worte. „Dann habt ihr gleich etwas für euer erstes Treffen zu besprechen."
„Komm." Ich stupse ihn an. „Lass uns feiern."

Und das tun wir auch. Nachdem wir zurück auf der Siedlung sind, bereiten wir alles vor. Jesper und ich ziehen uns in die Küche zurück. Die anderen bereiten währenddessen draußen alles vor. Ähnlich wie zu meinem Geburtstag wird ein Tisch aufgebaut, ein Lagerfeuer entfacht und Lichterketten aufgehangen. Noch bevor das Abendessen fertig ist, sind Mato und Noah betrunken, was erstaunlich ist, denn Wandler brauchen eine Menge Alkohol, um betrunken zu werden.
Am Tisch essen wir gemeinsam, lachen, erzählen Geschichten und stellen wieder das alte Radio raus, um ein bisschen musikalische Begleitung zu haben. Weil Mato unglaublich viel Energie hat, fordert er mich zum Tanzen auf. Höflich fragt er Nikan um seine Erlaubnis, verbeugt sich sogar und zieht mich energisch von seinem Schoß und schleudert mich ums Feuer. Aber es macht Spaß und ich sehe, dass auch Olivia Ian dazu überreden konnte mit ihr zu tanzen. Die anderen schauen uns belustigt zu oder beachten uns gar nicht mehr. Als ein langsameres Lied gespielt wir, gesellen sich auch Jesper und Len dazu und Nikan fordert mich zurück.
„Es kommt mir schon so ewig vor, seit wir das letzte Mal zusammen getanzt haben." Nikan schwelgt in Erinnerung und auch ich denke an diesen Tag zurück. Es war auf der Feier nach der Zeremonie von Melissa und Dakota.
„Das konnte man wohl kaum als Tanz bezeichnen."
„Stimmt, du warst ganz steif und sahst nicht sehr glücklich aus." Nikan lacht.
„Ich war gar nicht steif", beschwere ich mich und trete ihm vielleicht ganz zufällig auf den Fuß. „Du hattest schwitzige Hände."
„Und du hast jetzt schwitzige Hände", neckt er zurück, dreht mich im Kreis und zieht mich dann wieder an seine Brust. „Außerdem ging der Tanz kein ganzes Lied lang."
„Jetzt tanzen wir schon seit zweit Liedern", bemerke ich und wiege mich mit ihm im Rhythmus der Musik hin und her.
„Es könnten noch zwanzig Lieder mehr sein oder nur ein einziges, solange du diejenige bist, mit der ich tanze." Seine Lippen treffen auf meine, sanft und kurz, aber nicht weniger intensiv. Als er sich wieder von mir entfernt, nicht viel, nur so dass er mir ins Gesicht sehen kann, sehe ich da nichts als Liebe in den dunklen Augen, die vom orangenen Licht des Feuers sogar ein bisschen rötlich wirken. Liebe, für mich und Liebe für sein Rudel. So unendlich viel Liebe, dass es mich innerlich vor Glück fast zerreißt.
„Du bist mein Zuhause, Nikan. Mein Rückzugsort, mein Herz und meine Seele", gestehe ich sanft lächelnd. Ich kann gar nicht in Wort fassen, was ich empfinde, für ihn und jeden anderen im Rudel, weil ich im Augenblick so viel auf einmal fühle.
„Da bin ich aber froh, denn du bist all das auch für mich, seit dem ersten Tag."
Er küsst mich erneut, sanft und zärtlich.

Wir feiern bis zum Morgengrauen. Tanzen, lachen und lieben.
Dean und Luke reisen am Abend ab, sie hätten längerbleiben können, doch wollten beide zurück zu ihren Gefährtinnen und Familien. Siehaben mir noch einmal ausdrücklich gesagt, dass dieser Vertrag nichts daranändern wird, dass wir immer eine Familie sind und uns auch weiterhin regelmäßigsehen werden. Ich habe mich von den beiden Brüdern mit einem weinenden undeinem lachenden Auge verabschieden können und als ich in Nikans Augen geblickthabe, habe ich es verstanden. Familie ist im Herzen, nicht immer anwesend,manchmal Meilen entfernt oder doch im gleichen Raum und dennoch Familie. Gefühleund Empfindungen können nicht durch Verträge getrennt werden und die Liebe istes, die uns am Ende immer wieder zusammenführt.

MoonshadowWhere stories live. Discover now