23 | River

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Vergangene Nacht habe ich alleine in meinem Bett verbracht. Nach einigen verstohlenen Küssen ist Nikan zur Grenzpatrouille aufgebrochen und erst wiedergekommen als die ersten Sonnenstrahlen durch die dichten Baumkronen gedrungen sind.
Als ich Nikan heute morgen gesehen habe, hat sich plötzlich alles so leicht angefühlt. Für einen kurzen Augenblick waren die Probleme um uns herum vergessen. Ich schwebe doch tatsächlich auf Wolke Sieben und kann zum ersten Mal nachvollziehen, wie es ist, wenn man die sprichwörtliche rosarote Brille trägt. Dennoch darf ich nicht zu sehr in meinen Tagträumen hängen bleiben. Es gibt immer noch die Situation mit Henry und Atlas. Außerdem sind alle angespannt und ständig müde von der stetigen Wachsamkeit und ich kann nicht helfen, weil ich mich aufgrund meiner Verletzungen nicht verwandeln darf. Len hat heute zwar die Fäden an meiner Schulter gezogen und statt des Verbandes komme ich nun mit großen Pflastern aus, dennoch können die Wunden wieder aufreißen, wenn sich meine Haut bei der Verwandlung dehnt und verformt. Hinzu kommt noch, dass ich wegen meines Verwandlungsverbotes nicht die komplette Grenze des Reviers kenne. Ich wäre also nur eine zusätzliche Belastung bei der Patrouille. Einzig und allein mit regelmäßig warmen Mahlzeiten kann ich meine Unterstützung anbieten.
Für das heutige Mittagessen habe ich fast schon ein Festmahl gezaubert. Olivia und Ian haben unsere Vorräte aufgestockt und da wir Gäste empfangen, wollte ich etwas Leckeres vorbereiten.
Es gibt Wildschweinbraten, von Clayton frisch erlegt, mit Süßkartoffelbrei, Bohnen, Maisbrot, in Speck gebratenem Gemüse und zum Nachtisch Apfelkuchen. Noch ist es ungewohnt für mich für so viele Personen zu kochen, doch Jesper und Olivia sind mir zur Hand gegangen. Es ist gar nicht zu glauben, wie viel wir alle zusammen essen. Doch die Verwandlung kostet Energie und verbrennt jedes Mal eine Menge Kalorien. Abgesehen davon funktioniert unser Stoffwechsel anders als der eines Menschen. Wir müssen auch nicht jeden Tag Fleisch essen, aber trotzdem steht es ganz weit oben auf dem Speiseplan. Zum Glück können wir das meiste selbst jagen, denn unser Fleischkonsum wäre wirklich nur sehr schwer zu finanzieren. Außerdem können wir so sicher stellen, dass es regional und nicht mit Medikamenten verseucht ist. Des Weiteren verwenden wir wirklich alles von einem Tier. Wir töten es nicht aus Spaß oder um uns eine Trophäe an die Wand zu hängen. Das ist morbide und bringt das Gleichgewicht der Natur durcheinander. Unsere Spezies glaubt, dass Tiere eine Seele haben. Vermutlich, weil wir die Vereinigung aus Mensch und Tier sind. Wir haben ein Gespür für die tierische Welt und aus Spaß diese Welt zu zerstören ist nicht vereinbar mit unseren Grundsätzen. Wir akzeptieren die Gesetze der Natur und achten darauf das Gleichgewicht aufrechtzuerhalten. Das bedeutet wir jagen, weil es in unserer Natur liegt und nicht weil wir Spaß am Töten finden.
Atlas habe ich auch etwas von dem Essen in den Keller gebracht. Ich finde es erschreckend daran zu denken, dass sich eine weitere Person unten in diesem Haus befindet. Eingesperrt in einen Käfig ohne Tageslicht und frische Luft. Atlas hat kein Wort mit mir gewechselt, ich allerdings auch nicht. Ich wüsste nicht, was ich ihm sagen sollte. Dass ich ihm verzeihe? Dass ich keinen Groll gegen ihn hege? Dass ich es nicht in Ordnung finde, dass er in diesem Ding eingesperrt ist?
Getraut habe ich mich noch nicht das zu sagen. Weder zu Atlas noch zu Nikan oder jemand anderen des Rudels. Das alles passiert doch nur wegen mir. Ich befinde mich wirklich nicht in der Lage Ansprüche zu stellen. Dennoch verabscheue ich dieses Ding. Ich habe selbst einige Nächte in so einem Käfig verbracht und weiß, wie beängstigend und erdrückend sich das anfühlen kann. Früher in meinem alten Rudel wurden oft Wandler eingesperrt, wenn sie gegen die Regeln verstoßen haben. Dabei war es egal wie schwer das Vergehen war.

Einmal, da muss ich zehn oder elf Jahre alt gewesen sein, wurden Lebensmittel aus unserem Lager gestohlen. Ich wusste, dass es die Familie eines Mädchens war, die so etwas wie einer Freundin am nähesten kam, weil sie in der Rudelhierarchie an unterster Stelle standen. Ähnlich wie meine Familie. Da es uns verboten war einer menschlichen Arbeit nachzugehen, hatten wir nie die Möglichkeit eigenes Geld zu verdienen und selbst für unsere Verpflegung zu sorgen. Die Wandler, die in der untersten Stufe der Hierarchie standen, bekamen daher oft nicht genug zu essen. Der damalige Alpha wusste, dass die Lebensmittel also von einer derer Familien gestohlen wurden, die Hunger leiden. Er wusste es. Er wusste, dass es Familien gab, die so hungrig waren, dass sie sich gezwungen sahen Essen zu klauen. Dennoch hat er kein Mitleid gezeigt. Weil er aber auch nicht ermitteln konnte, wer der Dieb war, hatte er befohlen die jüngsten Familienmitglieder derer Familien, die als Täter in Frage kommen, in Käfige zu sperren. In der Hoffnung, es würde jemanden zum Reden bringe.
Im Sommer, bei praller Mittagssonne. Ohne Schatten und Wasser.
Ich weiß nicht wie lange ich und die anderen Kinder in diesen Käfigen eingesperrt waren. Aber keiner hat ein Wort gesagt. Ich auch nicht, obwohl ich wusste, wer es getan hat. Ich wusste aber auch, wie es sich anfühlt so hungrig zu sein, dass man sich gezwungen fühlt zu stehlen. Viele haben das getan. Aber nie in großen Mengen, dass es auffallen würde. Ab und zu mal einen Apfel oder etwas Brot.
Meine Haut war nach Stunden in der heißen Sonne verbrannt. Ich konnte drei Tage nicht schlafen, weil jede Berührung von Stoff auf meiner Haut wie Feuer gebrannt hat. Klamotten konnte ich kaum ertragen. Es hat drei weitere Tage gedauert bis sich meine Haut komplett geschält hat und nach etlichen Salben, die mir meine Mutter aufgetragen hat, wieder regeneriert hat. Manchmal träume ich von diesem Tag.

MoonshadowWhere stories live. Discover now