0 4 | s o v i e l m e h r

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d a n a

"DU WILLST DIE deutsche Nationalhymne ändern lassen?"

David klang schockiert. Die Fassungslosigkeit in seinen Zügen brachte mich dazu, nervös auf meinem Schreibtischstuhl herum zu rutschen, selbst wenn sein entsetzter Blick nicht mir galt, sondern Stella.

Ihr schien das jedoch absolut nichts auszumachen. Angestachelt durch seine Reaktion reckte sie ihr Kinn etwas weiter in die Höhe. Ich bewunderte sie dafür, dass sie nicht einknickte, wenn er einen solch schneidenen Tonfall verwendete. Ich wusste, dass ich es wäre.

"Du etwa nicht?", erwiderte sie mit einem wütenden Funkeln in den Augen. "Die Ausdrücke Vaterland und brüderlich stehen nicht gerade für die weibliche Population Deutschlands. Denkst du nicht, unsere Nationalhymne sollte nicht von Exklusion geprägt sein und stattdessen lieber jeden ansprechen?"

Daraufhin stöhnte David nur genervt auf. "Stella, das ist ein Stück Kulturerbe. Du kannst nicht einfach einen Text, der im neunzehnten Jahrhundert geschrieben wurde, umändern lassen."

Sie hob eine fragende Augenbraue an. "Ach, ja? Und warum wurden die ersten beiden Strophen dann gestrichen? Wenn wir zwei ganze Strophen streichen können, dann können wir ja wohl zwei mickrige Wörter ändern lassen, um der Gleichberechtigung wenigstens einen Schritt weiter zu kommen. Wenn wir nicht einmal in unserer eigenen Nationalhymne miteinbezogen werden, wie sollen wir dann jemals so etwas wie Gleichstellung erreichen?"

Punkt für sie. Ein etwas radikaler Ansatz, aber ich hätte nichts darauf erwidern können.

David konnte es jedoch. Er sah sie an, als bezweifelte er, dass sie noch alle Tassen im Schrank hatte. "Weil die erste Strophe mit einem Horst-Wessel-Lied in Verbindung gebracht wurde, als die Nazis die Hymne zu ihren Zwecken instrumentalisiert haben. Ein Kampflied. Natürlich können wir diese Zeilen nicht mehr singen. Aber die Worte Vaterland und brüderlich bringen doch niemanden um. Und wehe, du beginnst jetzt, Sexismus mit Nationalsozialismus zu vergleichen, denn dann schwöre ich bei Gott–"

Ich war mir sicher, dass Stella daraufhin ebenfalls etwas zu entgegnen hatte. Doch der Schokomuffin, der in mein Sichtfeld rutschte, als jemand ihn auf meinem Schreibtisch platzierte, lenkte meine Aufmerksamkeit von ihrer Diskussion.

Als ich aufsah, um in Erfahrung zu bringen, wer mir einen Muffin vorbeibringen würde, entdeckte ich Levi, der sich mit einem Lächeln gegen die Tischplatte meines Schreibtisches lehnte.

Mein Herz machte einen nervösen Stolperer. Ich hasste es, aber selbst nach einem Monat bei der Druckfabrik machte seine Anwesenheit mich nicht weniger nervös. Eher im Gegenteil.

Denn Levi Koopmann war überall. Ich hörte sein tiefes Lachen, wenn ich versuchte, mich auf das Korrekturlesen eines Artikeln zu konzentrieren. Oder ich sah im Augenwinkel, dass er mit Stella am Kaffeeautomaten stand, wenn ich mir meine Trinkflasche am Wasserspender auffüllte. Während der Redaktionssitzungen spürte ich seinen Blick, wenn er zufälligerweise über mich glitt. Und auch wenn ich es nicht wollte, weil ich wusste, dass Levi Koopmann niemals dasselbe aufgeregte Herzflattern bekam, wenn er mich ansah, so wie es bei mir der Fall war, konnte ich nichts gegen die Reaktion meines Körpers tun.

Es war die schrecklichste und schönste Qual, ihn jeden Tag sehen zu müssen, die ich mir hätte vorstellen können. Vor allem, weil Levi zu allen so unglaublich nett war.

Er war nicht wie ich. Ganz im Gegenteil. Während ich mit Höflichkeiten um mich warf, weil ich hoffte, sie würden mich vor unangenehmen Situationen und ärgerlichen Konfrontationen schützen, wusste ich aus tiefstem Herzen, dass Levi das Bedürfnis besaß, jedem den Eindruck zu geben, dass er gewollt und gemocht wurde. Das machte alles noch viel schwerer.

phantomschmerz | ✓Where stories live. Discover now