2 7 | w e r b i s t d u

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d a n a

MIT DEM ZUG hatte ich sechs Stunden bis nach Berlin gebraucht. Weil ich kein Gepäck hatte, hatte ich keinen Problem gehabt, einen Sitz zu finden. Die meiste Zeit der Fahrt hatte ich aus dem Fenster gestarrt, an nichts und an alles zur selben Zeit gedacht.

Ich hatte nicht gewusst, was in mich gefahren war, als ich am Morgen bei Stella anrief, nachfragte ob ich einen der Urlaubstage, die mir noch zustanden kurzfristig nehmen konnte und war bereits in der Bahn zum Hauptbahnhof gesessen, bevor ich es gewusst hatte.

Mein Kopf war leer und mein Körper arbeitete auf Autopilot, als ich mit der Bahn in die Innenstadt fuhr und die restliche Strecke lief. Niemand drehte sich nach mir um, als ich in die alte Oper trat, die um diese Uhrzeit noch leer war, bevor die Gäste am Abend kommen würden. Bereits von weitem hörte ich die Takte des zweiten Akts von Giselle, in meinem Magen ein schweres Gefühl.

Niemand bemerkte mich, als ich mich stumm in eine der letzten Reihen sinken ließ und die Proben beobachtete. Ich schaute den Ballerinen zu, wie sie sich über die Bühne bewegten, erkannte einige Gesichter, die schon zu meiner Zeit im Corps de Ballett gewesen waren. Einige waren über die Jahre hinzugekommen. Einige waren nicht mehr da. Ich gehörte wohl zu den letzteren.

Ich hatte keine Ahnung, wie viel Zeit verging, doch sie tanzten den zweiten Akt noch drei weitere Male durch. Es schmerzte, ihnen zuzusehen. Alles schmerzte. Und doch konnte ich einfach nicht gehen.

In meinem Augenwinkel sah ich, dass jemand den Saal betrat und sich in Richtung der Reihe bewegte, in der ich saß. Dies war wohl der Moment, in dem ich doch noch erwischt und aufgefordert wurde, zu gehen. Mein Blick blieb an den Tänzern heften, während ich versuchte, jede restliche Sekunde in meinen Verstand zu stanzen, um mich daran zu erinnern, wie es sich angefühlt hatte, hier zu sitzen.

Doch die Person ließ sich auf dem Platz neben mir sinken, ohne ein Wort zu sagen. Obwohl alles in mir rebellierte, sah ich auf und entdeckte den strengen brünetten Dutt der Frau, die mir vor einigen Jahren einen solchen Respekt eingejagt hatte, dass ich in diesem Moment wohl ohnmächtig gewesen wäre. Hätte sie mich damals bei etwas Verbotenem erwischt – Gott, ich hätte mich zu Tode geschämt. Aber jetzt schien es beinahe unwichtig, ob Natascha Reichhardt mich mochte oder nicht. Ich war nur eine von vielen, eine die gekommen und wieder gegangen war, wie so viele vor und nach ihr. Niemand besonderes.

Eine Weile schwiegen wir beide und sahen nur zu, wie Hilarion Giselles Grab besuchte, vor Reue und Schuld gequält. Es war wunderschön.

Ich war es, die das Schweigen schließlich brach. Ohne meinen Blick von der Bühne zu wenden, fragte ich sie:

"Haben Sie Kinder?"

Wenn Natascha überrascht war, ließ sie es sich nicht anmerken. Stattdessen verneinte sie nur mit einem Kopfschütteln. "Nein."

Natascha Reichhardt war bereits Ende vierzig. Wenn sie bisher noch nicht an Nachwuchs gedacht hatte, dann würde sich das in den nächsten Jahren auch nicht mehr ändern.

"Wollten Sie denn welche?"

Dieses Mal ließ sie sich mit ihrer Antwort mehr Zeit. "Ich wollte in meinem Leben viele Dinge. Ich wollte Intendantin des Balletts werden. Das hat geklappt. Ich hatte überlegt, ob ich Kinder will, aber dann hat der Zeitpunkt nicht gepasst und das Leben ist dazwischen gekommen. Manche Dinge funktionieren, manche nicht."

Es war eine kryptische Antwort, doch für jemanden wie mich, der bereits wenig Hoffnung hatte, eigene Kinder zu bekommen, klang sie rational. Ich hatte bereits gewusst, dass meine ausbleibende Blutung bedeuten könnte, dass etwas nicht stimmte, aber bis zu meinem Unfall hatte es mir nie etwas ausgemacht. Es hatte mich zu einer besseren Tänzerin gemacht. Ich war immer fit, hatte nie Krämpfe, musste mich nie damit beschäftigen, ob ich jemals Kinder wollte oder nicht. Die Entscheidung war mir abgenommen worden, wenn auch durch meine eigenen Taten.

phantomschmerz | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt