1 4 | s o v i e l m e h r

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MEINE FINGERSPITZEN GLITTEN über die Narbe auf ihrem rechten Knie, dort wo ihre sonst so gebräunte Haut sehr viel heller war und sich unter meiner Berührung weicher und empfindlicher anfühlte. Sie war erst drei Jahre alt, aber ich bezweifelte, dass sie je verschwinden würde. Dafür war sie zu groß, schlängelte sich unter ihrer Kniescheibe entlang, als Erinnerung daran, dass Dana in ihrem Leben wohl schon einiges an Schmerzen hatte aushalten müssen.

Dana, die sich in der Zeit, in der ich im Bad verschwunden war, um das Kondom zu entsorgen, in die Bettdecke gehüllt hatte, beobachtete meine Hand, die über die helle Haut glitt, beinahe schüchtern.

Nach unserem Date, das ziemlich schnell ziemlich desaströs geworden war, hatte ich Davids Rat doch noch befolgt und mich an meinen Laptop gesetzt, um Dana Prinz zu googlen. Viel zu sehr hatten mich die Worte der Intendantin des Berliner Staatsballetts und der panische Blick in Danas Augen verunsichert, als dass ich mich noch länger hätte zurückhalten können.

Sobald mein Zeigefinger die Enter-Taste gefunden hatte, waren die Artikel, die die Suchmaschine ausspuckte so zahlreich, dass ich gar nicht gewusst hatte, wo ich hätte anfangen sollen.

Mein Mauszeiger war schließlich zu einem Artikel aus zweitausendvierzehn gewandert, in dessen Danas Name mit dem Begriff Wunderkind in Verbindung gebracht worden waren. Ich hatte den Bericht überflogen, darin die Information, dass Dana mit fünfzehn Jahren das mit Abstand jüngste Mitglied im Corps de Ballett des Berliner Staatsballetts geworden war. Darunter ein Bild von ihr in einem hautengen, blassrosa Tanztrikot und einem weißen Tutu. Mit fünfzehn hatte sie noch deutlich jünger ausgesehen, doch was mich beinahe beängstigte, war ihre straffe Körperhaltung, die sie bis heute noch nicht abgelegt hatte.

Ich hatte mich langsam durch sämtliche Artikel geklickt, hatte ihre Karriere in Berlin durch eine Art Zeitkapsel verfolgt, bis ihr Unfall erwähnt wurde – die Überschrift hatte bereits genug verraten, und ich hatte mich nicht dazu bringen können, die Zeilen zu lesen, die ihr Unglück beschrieben.

Stattdessen hatte ich in der Suchmaschine den Reiter Videos ausgewählt und mich von der Vielzahl an Clips überwältigen lassen, die aufgelistet wurden. Ich hatte eins der Videos ausgewählt, das zweitausendsechzehn entstanden war, nur ein Jahr vor dem Ende ihrer Karriere, das auf dem Youtube-Account des Berliner Staatsballetts online gegangen war, und das die Solisten bei ihrem Training für die Aufführung des Nussknackers begleitet hatte. Ich hatte die Einheiten der anderen übersprungen, bis ich bei Danas Sequenz angekommen war.

Sie hatte ein schwarzes, enganliegendes Trikot getragen, dazu einen hauchdünnen, beinahe durchsichtigen Rock, der um ihre erschreckend schmale Taille gebunden war. Ihr dickes, blondes Haar hatte sie in einen engen Dutt in ihrem Nacken gebunden, ganz anders, als ich es von ihr gewohnt war. Der Ausdruck, den sie auf ihrem Gesicht gehabt hatte, als ihre Trainerin ihr einige Anweisungen gegeben hatte, von denen ich kein Wort verstanden hatte, hatte so vor Konzentration gestrotzt, dass ich bezweifelte, dass sie das Kamerateam überhaupt bemerkt hatte.

Und dann – dann hatte Tschaikowskys Musik eingesetzt. Ich hatte nie viel Ahnung von Ballett gehabt, doch Dana zuzusehen, wie sie sich über das Parkett bewegte, so leichtfüßig und anmutig, dass alle anderen Tänzer um sie herum wie tollpatschige Entenfüßler wirkten, hatte mir den Atem geraubt.

Dana war nicht nur wunderschön. Sie war ein Meisterwerk.

"Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich mit dem Tanzen angefangen habe", riss sie mich jetzt aus meinen Gedanken, und ich sah auf, überrascht, dass sie das Ballett freiwillig ansprach. Nach ihrer Reaktion vor ihrem Haus hatte ich damit gerechnet, dass dies das eine Thema war, das Dana niemals diskutieren wollen würde. Ein Tabuthema, das keiner von uns auf den Tisch bringen sollte. "Alle Erinnerungen, die ich an meine Kindheit habe, haben mit dem Ballett zu tun. Wie ich mir neue Tanzschläppchen zu meinem vierten Geburtstag gewünscht habe, weil die Sohlen meiner alten bereits durchgetanzt waren. Wie meine Mutter mich von meinen Trainingsstunden abgeholt hat. Wie ich Tschaikowsky zum Einschlafen gehört und mir gewünscht habe, ich wäre Klara oder die Zuckerfee."

phantomschmerz | ✓Where stories live. Discover now