1 1 | k e i n e w a h l

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d a n a

ES WAR WIE in meinen Albträumen.

Die Musik dröhnte ohrenbetäubend laut in meinen Ohren, ließ mich mit jedem Paukenschlag zusammenzucken. Obwohl ich wusste, dass die Instrumentation fehlerfrei gelungen war, hörte die Violine sich in meinem Kopf viel zu schrill an.

Eigentlich war es sogar noch schlimmer als in meinen Albträumen. Weil ich wirklich hier war.

Meine Augen verfolgten die Tänzer, wie sie im ersten Akt über das Parkett glitten, so federleicht und anmutig, als würden sie schweben. Doch es hatte nichts beruhigendes an sich, wie sie jeden Takt perfekt erwischten. Es fühlte sich an, wie die reinste Qual.

Ich war froh, dass Levi in der Dunkelheit nicht nach meiner Hand gegriffen hatte. Hätte er es doch getan, wären seine Fingerknochen jetzt vermutlich schon verstaucht. Stattdessen ballte ich die Hände zu Fäusten, so fest, dass ich mir beinahe sicher war, dass ich später halbmondförmige Sicheln auf den Innenseiten meiner Handfläche vorfinden würde.

Als die Lichter schließlich wieder angingen und die Musik verstummte, was die Pause zwischen den beiden Akten einläutete, konnte ich nicht schnell genug aus meinem Sitz aufspringen. Levi begann ein Gespräch, als wir in das Foyer traten, doch seine Worte kamen nicht durch die Watte in meinem Kopf an.

Erst eine andere Stimme brachte mich in die Gegenwart zurück.

"Dana?" Ich erstarrte, erkannte die Tonlage sofort und wäre am liebsten vom Erdboden verschluckt worden. "Dana Prinz?"

Am liebsten wäre ich einfach weitergelaufen. So lange, bis ich das Opernhaus bereits hinter mir gelassen hatte. Vielleicht noch weiter.

Doch Levi hatte sich bereits nach der Frau umgedreht, die mich angesprochen hatte. Ich folgte seinem Blick, erkannte den streng sitzenden, brünetten Dutt und die perfekte Haltung sofort.

Mein Mund war staubtrocken.

"Dich habe ich ja schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen", kommentierte sie, als sie sich uns näherte. Meine Hände wurden schwitzig und ich war mir sicher, dass mein Herzschlag gefährlich schnell ging. "Ich dachte schon, du hättest dem Ballett vollständig den Rücken zugewandt."

Ihre Worte waren wie ein Schlag ins Gesicht. Weil es sich beinahe anhörte, als wäre es meine Wahl gewesen. Doch diese Möglichkeit hatte ich nie gehabt. Die Entscheidung war vor drei Jahren für mich getroffen worden.

Als ich nicht antwortete, glitt ihr Blick zu Levi, der sie ebenfalls neugierig beäugte. Die Manieren, die man mir eingebläut hatte, waren stärker als die Panikattacke, die sich gerade in meinem Innersten anbahnte.

"Entschuldigen Sie", brachte ich hervor, als ihr abwartender Blick mich streifte. "Levi, das ist Natascha Reichardt, Intendantin des Berliner Staatsballetts. Frau Reichardt, das ist Levi Koopmann – ein Freund."

Levi schüttelte ihre Hand, sagte etwas zu ihr, das ich in meiner Panik nicht registrierte. Sein Blick glitt wieder zu mir. "Woher kennt ihr euch?"

Ich öffnete den Mund, doch kein Wort kam heraus. Bevor ich mir eine Antwort zurechtlegen konnte, die weder wahr noch falsch war, fiel mir Frau Reichhardt bereits ins Wort.

"Oh, Dana war im Corps de Ballett des Berliner Staatsballetts", begann Natascha, wobei ihr Blick über mich wanderte. Sie hatte noch immer denselben kalkulierenden Ausdruck, den ich von ihr und jedem anderen Tanzmeister gewohnt gewesen war. "Als ich sie das erste Mal gesehen habe, da war sie gerade mal zwölf. Wie schnell die Zeit vergeht."

Ich spürte Levis brennenden Blick auf mir. "Du hast Ballett getanzt?"

"Sie war nicht nur irgendeine Tänzerin", erwiderte Natascha und am liebsten hätte ich sie angefleht, stumm zu bleiben. Doch ich war wie gelähmt. Alles, was ich tun konnte, war zuzusehen, wie diese Frau ein weiteres Mal mein Leben ruinierte. "Dana war die jüngste Tänzerin, die wir je in unserem Corps de Ballett hatten. Als sie achtzehn wurde, hat sie den Sprung von der Solistin zur ersten Solistin innerhalb eines Jahres geschafft. Sie war phänomenal."

phantomschmerz | ✓Where stories live. Discover now