2 9 | d u r c h h a l t e n

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d a n a

ES WURDE NICHT einfacher.

Wenn ich gehofft hatte, einsam einen Muffin auf einer Parkbank mitten in Berlin zu essen und damit all das wieder in Ordnung zu bringen, was die letzten einundzwanzig Jahre über falsch gelaufen war – dann hatte ich mich mächtig geirrt.

Ich hatte gewusst, dass ich die kranke und toxische Beziehung, die ich zum Essen aufgebaut hatte nicht einfach wieder abschütteln konnte. Dafür war ich lange genug in Therapiestunden gesessen. Und trotzdem hatte ich immer gedacht, dass dieser Schritt, endlich einzusehen, dass der Leidensdruck so viel größer war als die positiven Effekte, die ich daraus zog, meinen Körper auszuhungern, der schwerste sein würde. Es war das erste Mal, dass ich eingesehen hatte, dass sich etwas ändern musste. Dass ich nicht nur nickte und lächelte, wenn mich medizinisches Personal gemahnt hatte, dass ich die Kurve kriegen musste.

Aber das schwerste war das, was danach kam. Die Schuldgefühle. Das Bedürfnis nun noch weniger zu essen, um die Kalorien auszugleichen, die ich mit diesem einen Schokomuffin exzessiv aufgenommen hatte. Das Bedürfnis, einfach aufzugeben und die Sehnsucht, nicht mehr obsessiv auf mein Essverhalten fixiert zu sein.

Es fühlte sich an, als würde ich immer wieder mit voller Wucht gegen eine Steinwand laufen.

Mein einziger Trost war, dass meine letzte Woche in der Druckfabrik angebrochen hatte. Drei Wochen waren vergangen, seitdem ich in Berlin gewesen war, Nele einen Therapeuten gesucht und Levi außerhalb der Arbeit gesehen hatte.

Kein Levi mehr in den Fluren. Kein Levi mehr in der Mitarbeiterküche. Kein Levi mehr in der Redaktionssitzung.

Kein Levi mehr.

Ich redete mir ein, dass es besser so war. Dass ich mit einem kalten Entzug von ihm besser klar kommen würde, als ihn jeden Tag sehen zu müssen. Es war nicht fair ihm gegenüber, all diese Probleme, die ich hatte, mit in eine Beziehung zu nehmen. Der Grund, warum ich auch nichts festes mit ihm gewollt hatte.

Schweiß verfing sich in meiner Augenbraue. Ich lief schneller, hatte vor, das Wettrennen gegen das Laufband zu gewinnen. Noch einen Verlust würde ich nicht ertragen können.

Ich musste einfach weitermachen. Immer weiter und weiter und–

Mit einem Ruck kam das Laufband zum Stehen. Ich stolperte, hielt mich gerade noch an den Griffen fest und sah auf.

Finn stand in seiner bemerkenswerter Größe neben mir und schaltete das Gerät aus. Sein Blick wirkte nicht sonderlich begeistert, als er mich musterte. "Hast du mich nicht gehört?"

Er hatte etwas gesagt?

"Nein, tut mir leid", erwiderte ich und stützte die Hände auf die Knie, um wieder zu Atem zu kommen. "Was hast du gesagt?"

Finns Augen wanderten über mich, kalkulierend und nicht zufrieden, das war mir bewusst. "Dass du mit der Scheiße endlich aufhören musst, Dana. Du quälst dich nur selbst."

Überrascht richtete ich mich auf. Finn war als mein Physiotherapeut zwar nur ein paar Jahre älter als ich, doch bisher hatte er immer darauf geachtet, Professionalität zu wahren und mich nicht in die Ecke zu drängen, auch wenn er wusste, wie lange ich schon mit mir selbst zu kämpfen hatte. Er hatte immer Kompromisse gesucht, versucht sich mir auf eine direkte, aber doch vorsichtige Art zu versichern, dass ich so nicht weitermachen konnte.

"Hast du gerade Scheiße gesagt?"

Finn schloss die Augen und ließ den Kopf in den Nacken sinken, beinahe als würde er ein Stoßgebet in Richtung Himmel schicken.

phantomschmerz | ✓Where stories live. Discover now