2 0 | h i e r

6.9K 443 25
                                    

d a n a

SEIN KIEFER WAR so sehr angespannt, dass ich befürchtete, er würde noch brechen.

Der sonst so entspannte Levi, den die ganze Welt zu sehen bekam, war verschwunden, sobald die Autotür seines Wagens sich hinter mir geschlossen hatte und er sich in den Verkehr eingefädelt hatte. Seine Hände umfassten das Lenkrad in einem eisernen Griff, so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten.

Wenn jemand etwas über kaputte Familienverhältnisse wusste, dann ich – mit neunzehn unter das Dach meiner Eltern zu ziehen, obwohl ich seit über zehn Jahren nicht mehr als zwei Wochen am Stück bei ihnen verbracht hatte – aber etwas an Levis unbekümmerten Art hatte mich zu dem Gedanken verleitet, dass er aus einer Bilderbuchfamilie stammen musste. Vielleicht konnte ich mir auch einfach nur nicht vorstellen, wie jemand nicht mit Levi klarkam.

"Ich bin ein bisschen nervös", gestand ich, als ich seine ungewohnte Stille nicht mehr aushielt. Ich spielte mit dem Saum meines blassgelben Sommerkleids, für das ich mich in der letzten Sekunde entschieden hatte. Es reichte bis knapp über meine Knie und fiel locker, doch die Träger, die auf meinen Schultern in lose Schleifen gebunden waren, machten es etwas angemessener für den Anlass. Auch wenn Levi mir gesagt hatte, dass es nur ein ungezwungenes Familienessen werden würde, hatte ich bereits gewusst, dass ungezwungen bei den Koopmanns wohl etwas wie semi-formell bedeutete, weshalb meine Sandalen auch einen kleinen Absatz hatten.

"Nervös?", fragte Levi beinahe skeptisch und riss seinen Blick von der Straße los, auf die er zuvor mit einem düsteren Blick fixiert gewesen war. "Weshalb nervös?"

"Weil es dein Vater ist", erwiderte ich mit einem Schulterzucken. Ich war noch nie der Familie eines Freundes vorgestellt worden. Vermutlich, weil ich zuvor noch nie eine Beziehung geführt hatte. Der Gedanke löste eine Kettenreaktion in meinem Kopf aus. Waren Levi und ich das denn? In einer Beziehung? Keiner von uns war bereit dazu, eine zu führen, das hatten wir erst vor kurzem besprochen. Hatte sich bei Levi etwas geändert? Hatte sich für mich etwas geändert? Wollte ich, dass etwas sich änderte?

"Ich glaube, wegen meinem Vater musst du nicht nervös sein", riss Levi mich aus dem Gedankenkarussell. "Du bist höflich, studierst Publizistik und könntest dich vermutlich mit ihm über die Feinheiten des Rollenoffsetdrucks unterhalten. Ich glaube nicht, dass es da etwas gibt, was er an dir nicht mögen könnte."

Mein Herz zog sich für den Bruchteil einer Sekunde zusammen. Levi, der über mich sprach, als wäre ich frei von jeglichen Fehlern, obwohl ich genau das Gegenteil davon war, machte es mir schwer, einen tiefen Atemzug zu nehmen. Und wenn ausgerechnet Levi so über mich redete – Levi, der so perfekt und höflich und sorgenfrei war wie niemand anderen, den ich kannte – ich wusste nicht, wie mein armes Herz das aushalten sollte.

"Was ist mit deinem Bruder?", hakte ich nach, bemüht darum, mir nicht anmerken zu lassen, was seine Worte mit mir anstellten. "Theo. Muss ich mich vor ihm fürchten?"

Die Art und Weise, wie Levis Kiefer sich erneut anspannte, gefiel mir nicht besonders.

"Nein", erwiderte er jedoch schließlich, warf mir aber einen schnellen Blick zu. "Aber du solltest dir nicht alles zu Herzen nehmen, was er sagt. Theo kann ein Idiot sein."

Von Marie wusste ich, dass Theo der älteste der Koopmann-Geschwister war. Mit knapp achtundzwanzig war er bereits sesshaft, verheiratet und hatte zwei Kinder. Und auch, wenn Levi und Marie eine so enge Beziehung hatten, schien dasselbe nicht für ihren älteren Bruder zu gelten. Während Marie Levis Namen bereits in der ersten Woche hatte fallen lassen, in der wir uns gekannt hatten, hatte es ungefähr sechs weitere Monate gedauert, bis sie überhaupt erzählt hatte, dass sie einen weiteren Bruder besaß. Und Levi, der ebenfalls nicht besonders gesprächig zu sein schien, wenn es um Theo ging, verstärkte diesen Eindruck nur nochmal.

phantomschmerz | ✓Donde viven las historias. Descúbrelo ahora