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d a n a

AM MONTAG BENAHM Levi sich, als wäre unser Date nicht völlig katastrophal gewesen.

Er mied mich nicht, machte kurze Zwischenstopps an meinem Schreibtisch, wenn er mit einer leeren Kaffeetasse bewaffnet in Richtung der Mitarbeiterküche unterwegs war, und sah mich auch nicht mit anderen Augen an. Das Gewicht auf meinen Schultern wurde dadurch nur noch viel schwerer.

Weil Levi sich nicht nur Mühe gegeben hatte und dann bitterlich von mir enttäuscht worden war, sondern er nun auch noch so tat, als hätte ich nichts falsch gemacht. Es verdeutlichte mir, wie gut Levi war. Und wie wenig er jemanden wie mich verdient hatte.

Ich ging auf seine Versuche eine Konversation zu starten ein, doch alles andere tat ich mit einem höflichen Lächeln ab. Ich fühlte mich schrecklich, da es meine Weise war, mich von ihm zu distanzieren und noch schrecklicher, als Levi tatsächlich keine Versuche mehr machte, etwas zu tun, das mein Herz zum schneller schlagen gebracht hätte.

Die ganze Woche über war es eine Qual, ihn zu sehen. Jedes Mal dachte ich daran, wie ich ihn im Foyer hatte stehen lassen, ganz alleine und ohne Erklärung. Und wie er mich nach Hause gefahren hatte, ohne mich zur Rede zu stellen.

Samstagnachmittag kroch ich das erste Mal an diesem Tag aus meinem Zimmer, um mir in der Küche etwas zu Essen zu machen. Ein ungutes Gefühl machte sich in meiner Magengegend breit, als ich Neles Stimme hörte, die über den fließenden Wasserhahn hinweg auf meine Mutter einzureden versuchte.

Obwohl alles in mir sich sträubte, die Küche zu betreten, tat ich es. Ich warf den beiden einen schnellen Blick zu bevor ich in Richtung des Kühlschranks flüchtete, die Edelstahltür aufzog und ratlos nach etwas essbarem suchte.

"Ich sage nur, dass ich es dieses Jahr schon versuchen könnte", fuhr Nele fort, ohne meine Anwesenheit zu würdigen. "Für einige machen sie eine Ausnahme. Das weißt du selbst."

Meine Mutter, die gegenüber von Nele auf einem Hocker an der breiten Kücheninsel saß, stieß ein Seufzen aus. "Ich weiß nicht, Liebes. Willst du nicht erst einmal dein Abitur beenden? Du bist sechzehn. Du solltest versuchen, dich auf die Schule zu konzentrieren. Außerdem könntest du in einem Jahr noch viel lernen. Katja hat nachgefragt, ob du deine Trainingspensum erhöhen willst."

Ich ahnte bereits, um was das Gespräch sich drehte. Nicht nur weil Katja Neles Tanzlehrerin war, sondern auch, weil es das einzige Thema war, um das die Welt meiner Schwester sich noch drehte.

Im Gegensatz zu mir war Nele nie auf einer staatlichen Ballettschule gewesen. Während ich mit neun Jahren ins Internat gekommen war und meine Eltern in den Ferien besuchen durfte, hatte Nele ihr ganzes Leben in diesem Haus verbracht. Ich wusste nicht, ob ich glücklich oder eher neidisch sein sollte, dass sie dadurch ein sehr viel engeres Verhältnis zu meinen Eltern hatte.

Für mich waren sie vielmehr zu Personen geworden, die ich alle paar Monate besuchen kommen durfte. Tanzmeister und ehemalige Solistinnen waren diejenigen gewesen, die mich großgezogen hatten. Von ihnen hatte ich unerbittliche Disziplin, kein Raum für Widerrede und das Verlangen nach Respekt eingetrichtert bekommen. Eigenschaften, die mich als Person geformt hatten und die Nele bis heute noch fehlten.

Sie war vielleicht eine bessere Tochter, aber nicht beharrlich genug, um es auf dem Parkett an die Spitze zu schaffen.

Vielleicht war Nele gut genug, um irgendwo in ein Corps de Ballett aufgenommen zu werden. Doch ich sah nicht das Potenzial in ihr, das die Solistinnen gehabt hatten, die in Berlin getanzt hatten. Und auch wenn Nele und ich ziemlich unterschiedlich waren, hatten wir in dieser einen Sache doch die gleiche Ansicht. Von den Seitenlinien zuzusehen und zu ahnen, dass man nie die Hauptrolle übernehmen werden würde, war beinahe schlimmer als völlig zu versagen. Qualvoller.

phantomschmerz | ✓Where stories live. Discover now