1 5 | v o n a n f a n g a n

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d a n a

IN EINEM FREMDEN Bett aufzuwachen, dazu noch nackt, hätte mich beunruhigen sollen. Aber als meine Finger über das Bettlaken wanderten, dort wo es noch warm war, weil Levi wohl noch nicht lange wach sein konnte, spürte ich, wie das Lächeln von letzter Nacht auf meine Lippen zurückkehrte.

Es war verrückt, aber das erste Mal seit langem fühlte ich mich ausgeschlafen. Als hätte Levi genug Platz in meinem Kopf eingenommen, um all die anderen Gedanken, die mir normalerweise den Schlaf raubten, zu vertreiben. Aufzuwachen und zu wissen, dass meine Schwester nicht vor meiner Tür herumlungern konnte, oder der Gefahr zu unterlaufen, meinen Eltern in der Küche zu begegnen. Erst in Momenten wie diesen spürte ich, wie sehr mein eigenes Zuhause sich nach einem Gefängnis anfühlte.

Die Schlafzimmertür war nur angelehnt und ich hörte das leise Brummen einer Kaffeemaschine, das wohl aus der Küche zu mir drang. Ich schwang meine Beine über die Bettkante und sah die Spur unserer Kleidungsstücke, die sich über seinen Schlafzimmerboden verteilt hatten. Ich bückte mich nach meiner Unterwäsche, zog sie über und schnappte mir Levis Shirt. Sobald der weiche Stoff bis über meine Oberschenkel fiel, nahm ich meine Haare aus dem Kragen und fuhr mit meinen Fingerspitzen durch sie hindurch, in der Hoffnung, dass sie nicht so zerzaust waren, wie ich befürchtete.

Auf meinem Weg in Richtung Küche verharrte ich im Flur, wo zwischen Kunstdrucken und abstrakten Illustrationen ein Bild eingerahmt hing, das mich zögern ließ. Ich betrachtete das Foto von Levis Familie mit einem dumpfen Gefühl in der Brust. Auf dem Bild konnte Marie nicht älter als zwölf sein, denn ihre Mutter hatte einen Arm um ihre Schulter geschlungen und ein herzliches Lächeln auf ihren Lippen. Levi war sechzehn gewesen, als seine Mutter gestorben war. Selbst damals war er wohl schon ein Herzensbrecher gewesen, denn bereits als Teenager war sein Grinsen so umwerfend, dass ich es mir gar nicht anders vorstellen konnte. Seine Züge wirkten jünger, weniger markant, als sie es jetzt waren und seine Statur war noch schlaksiger gewesen, seine Schultern noch nicht so breit wie heute. Er wirkte wie ein glücklicher Jugendlicher und mein Herz zog sich zusammen, als ich daran dachte, was wohl kurze Zeit später gefolgt war – der Tod seiner Mutter, die er hier auf dem Bild an sich gezogen hatte.

Sein älterer Bruder Theo und sein Vater wirkten sehr viel ernster. Das erste Mal, seitdem Marie mir erzählt hatte, dass die Beziehung zwischen Levi, seinem Bruder und seinem Vater angespannt war, verstand ich tatsächlich, was sie damit meinte. Theo kam definitiv nach Heinrich Koopmann, mit harten Gesichtszügen und einem kühlen, beinahe distanzierten Lächeln. Marie und Levi dagegen – sie waren ganz offensichtlich das Abbild ihrer Mutter, mit einem breiten Lächeln und einem Herzen, das sie auf der Zunge trugen.

Ich riss mich von dem Bild los und trat etwas zögernd in Richtung der Küche, wo Levi eine Pfanne auf dem Herd platziert hatte und vor dem geöffneten Kühlschrank verharrte. Mein Blick wanderte über seine nackte Brust, bedachte seine Muskeln, die sich mit jeder Bewegung anspannten, mit der Aufmerksamkeit, die sie verdient hatten. Er trug eine Jogginghose und sein haselnussbraunes Haar fiel ihm in die Stirn, doch der Anblick löste eine Art Sehnsucht in mir aus. Sehnsucht danach, ihn jeden Morgen so zu sehen, in seinem Bett zu schlafen, seinen Namen auf den Lippen zu haben, sobald ich aufwachte.

Es war ein verrückter Gedanke, einer der mir Angst einjagte, sobald er sich geformt hatte.

Bevor ich mich weiter in etwas hineinsteigern konnte, machte ich einen Schritt in den Raum hinein. Levi sah auf, ein noch etwas verschlafenes Grinsen auf seinen Lippen, als ich mich ihm näherte.

"Hey", meinte er, seine Stimme noch rau und ich hätte ihn am liebsten besinnungslos geküsst. "Kaffee?"

Ich nickte und er griff in einem der Hängeschränke nach einer Tasse, stellte sie unter den Vollautomaten und wählte ohne nachfragen zu müssen den Milchkaffee mit neunzig Prozent Kaffee aus. Ich hakte nicht nach, woher er wusste, wie ich meinen Kaffee trank.

phantomschmerz | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt