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d a n a

DIE SCHLIMMEN DINGE kamen immer unerwartet.

Ich hatte immer vermutet, dass die schlechten Tage diejenigen waren, an denen man bereits aufwachte und wusste, dass man gar nicht erwarten konnte, bis die Nacht wieder kam und einen verschluckte. Aber spätestens, als der Tag, an dem ich mir mein Knie zerstört hatte, begonnen hatte wie jeder andere, hatte ich diese Ahnung, dass die wirklich unangenehmen Dinge dann kamen, wenn man nicht mit ihnen rechnete.

Der Tag war gewesen wie jeder andere in der Druckfabrik. Stella und David hatten sich in den Haaren gelegen, Levi hatte nicht ganz so unauffällige Blicke in meine Richtung gewagt, wann auch immer er sich in der Mitarbeiterküche einen Kaffee holte und ich hatte die Artikel Korrektur gelesen, die in der nächsten Ausgabe erscheinen sollten. In der Bahn hatte ich sogar einen Sitzplatz erhaschen können, was um diese Uhrzeit so selten war wie ein Kompliment von David. Man rechnete schon gar nicht mehr damit, aber wenn es passierte, dann war man so überrascht, dass man es gar nicht mehr hinterfragte.

Als ich also nach Hause kam und noch nicht einmal die Zeit hatte, mir die Schuhe von den Schuhen zu streifen, bevor ich bemerkte, dass etwas anders war als sonst, wusste ich, dass von nun an alles den Bach hinunter gehen würde.

Die gepackten Koffer am Fuß der Treppe waren der erste Hinweis. Der zweite war Nele, die daneben stand.

"Hallo", meinte ich, während mein Blick über die Gepäckstücke glitt. Zu viele, um einzig und alleine meiner Schwester zu gehören.

Nele sah auf, beinahe als hätte sie nicht damit gerechnet, dass sie mich noch sehen würde, bevor sie aufbrach wohin auch immer sie ging. Ich machte einen Schritt in den Flur hinein, während mein Blick in Richtung Küche glitt, die verdächtig still schien.

"Hi."

Meine Schwester schien genauso wenig begeistert von mir zu sein wie ich von ihr.

Ich rang einen Moment mit mir, dann fragte ich: "Wohin geht's?"

So wie ich meine Eltern kannte, hatten sie Nele irgendeinen Kurzurlaub gebucht, um sie davon abzulenken, dass sie eigentlich lieber tanzen wollte, als ihr Abitur zu machen. Ich hoffte, dass sie es schafften, um ihret und um Neles Willen.

Doch es war nicht Nele, die antwortete. Stattdessen kam meine Mutter die Treppe herunter, eine Reisetasche in der Hand, als sie sagte: "Nach Berlin. Nele hat ein Vortanzen vor dem Corps de Ballett."

Es fühlte sich an wie ein Schlag in den Magen. Ich wünschte, es wäre Neid gewesen, der in mir hochkam. Doch stattdessen war es Mitleid, das beinahe in Wellen überschwappte.

"Viel Glück", war alles, was ich herausbrachte, als meine Mutter sich einen der Koffer schnappte. Nele griff nach dem anderen und mein Vater legte seine Hand um den Griff des letzten Trolleys.

"Ich fahre die beiden zum Flughafen", kommentierte er, schien meine Reaktion abzuwarten. Ein paar Tage ohne meine Mutter und Nele? Nur meinem Vater, den ich auf den Fluren ausweichen musste, wenn ich durchs Haus schlich? Ich konnte nicht sagen, dass mich ihre Abwesenheit allzu sehr schmerzte.

"Okay", meinte ich und machte mich daran, die Treppenstufen zu erklimmen. "Bis dann."

"Wir dachten, du könntest am Wochenende nachkommen", sagte meine Mutter plötzlich, so unerwartet, dass ich tatsächlich innehielt. Ich? Mit ihnen in Berlin? Ich hatte keine Ahnung, wann ich das letzte Mal mit ihnen irgendwo hingefahren war, mal ganz abgesehen von der stundenlangen Rückfahrt aus der Rehaklinik.

Und ich kam nicht umhin, den kleinsten Funken von Hoffnung in mir aufwallen zu spüren. Das Verhältnis zu meinen Eltern war bereits so fremd geworden, dass ich manchmal bezweifelte, dass wir jemals zueinander finden würden. Aber das? Meine Mutter, die wollte, dass ich die beiden begleitete?

phantomschmerz | ✓Where stories live. Discover now