e p i l o g | n i c h t l ä n g e r l e i d e n

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d a n a

MEINE BEINE FLOGEN über den Sand, spürten jedes einzelne Korn, das zwischen meinen Zehen hindurch glitt. Schwere Schritte folgten hinter mir, doch ich wagte nicht, mich nach ihm umzudrehen. Nicht, wenn er mit jedem Meter zu mir aufholte.

Das Grinsen auf meinem Gesicht wurde so breit, dass meine Wangen wehtaten. Ich zwang mich, das Lachen, das sich aus meiner Kehle bahnen wollte, zu unterdrücken. Wenn ich ins Stocken geriet, würde er–

Hände schlangen sich von hinten um meine Taille und zogen mich gegen eine feste Brust. Levi drehte sich, zog mich mit sich, sodass meine Füße den Halt zum Boden verloren. Dieses Mal konnte ich das Lachen nicht herunterschlucken.

"Hab' dich." Seine Lippen streiften meinen Hals, als er sachte innehielt und mich wieder auf dem Boden absetzte. Die Welt drehte sich jedoch noch weiter, weshalb meine Finger sich automatisch an seine Unterarme klammerten, die mich an ihn gezogen hielten.

"Das war unfair", murmelte ich, ließ mich jedoch an seine Brust zurücksinken. Obwohl es erst Ende August war, war die Temperatur im Norden Deutschlands bereits auf knapp unter zwanzig Grad abgesunken. Die Brise, die über die Sanddünen zog, ließ mich unter meinem dünnen Kleid frösteln. Levi dagegen war pure Wärme. Eine menschliche Decke, die mich von innen heraus aufwärmte.

"Das war absolut nicht unfair", erwiderte Levi. Ich musste mich nicht zu ihm umdrehen, um zu wissen, dass ein breites Lächeln auf seinen Lippen lag. "Du hattest mindestens fünf Sekunden Vorsprung."

Vermutlich hatte er recht. Aber fünf Sekunden waren mit Levi auf den Fersen ganz und gar nicht genug, um wirklich einen Vorsprung zu haben. Nicht, wenn ich mit jedem seiner Schritte zwei machen musste.

Mein Blick fiel auf die Brandung, dort wo die Wellen sich ein letztes Maul aufbäumten und dann im Sand verliefen. Es war wunderschön, beruhigend und vermutlich viel zu kalt.

"Wir hätten den Wetterbericht lesen sollen", murmelte ich amüsiert, doch Levi schüttelte bereits den Kopf.

"Ich weiß nicht, was du meinst." Alles an seiner Tonlage sagte mir, dass er wusste, was ich meinte. "Wir haben strahlenden Sonnenschein."

An blauem Himmel mangelte es uns auf keinen Fall. Aber an der Nordsee schienen die Temperaturen tiefer als im Süden Deutschlands. Ich hatte Angst, einen Zeh zu verlieren, sollten wir uns wirklich in die Wellen trauen.

"Vielleicht genießen wir lieber den Anblick", entgegnete ich und ließ meinen Kopf gegen seine Schulter sinken. "Bevor wir uns eine Lungenentzündung einfangen."

Levis Lachen vertrieb die Kälte ein wenig. "Du meinst, wir sind sieben Stunden gefahren, um uns das Meer anzusehen?"

Obwohl es verrückt war, zuckte ich mit der Schulter, ein Lächeln auf meinen Lippen. "Es hat sich gelohnt."

Sein Griff verstärkte sich etwas. Ich wusste, woran er dachte.

Dass meine letzten Therapiestunden nicht so gelaufen waren, wie ich es mir gewünscht hätte. Obwohl ich mich freiwillig dazu bereit erklärt hatte, die Therapeutin zwei Mal die Woche zu sehen, fiel es mir an den meisten Tagen schwerer, als ich es mir erhofft hatte. Und obwohl ich nicht länger in meinem Elternhaus lebte und einige schwerwiegende Trigger damit aus meiner Reichweite gebracht worden waren – meine Eltern, Nele, meine Eltern – es war nach wie vor hart.

Levi, der mich trotz der Tatsache, dass er weiterhin in der Druckfabrik arbeitete und im Gegensatz zu mir keine Semesterferien hatte, jedes Mal abholte und vor der Praxis auf mich wartete, bekam hautnah mit, wie sehr mir die Stunden unter die Haut gingen. Es nützte nichts, ihn anzulügen. Levi sah durch meine Worte gerade hindurch. Es war, als wäre er immun gegenüber meinen Ausreden geworden.

Seine Lippen streiften meine Schultern. "Das hat es."

Es war seine Idee gewesen, einen spontanen Ausflug zu machen. Am Frühstückstisch, nachdem er mir einen Teller Pfannkuchen und eine Tasse Kaffee serviert hatte. Er kochte, ich spülte.

Es war einfacher, ihm die Kontrolle über das, was ich aß, abzugeben. Weil es sich anfühlte, als würde ich die Verantwortung für die Kalorien an ihn weitergeben, als wäre es nicht meine Schuld, wenn ich abends nicht hungrig ins Bett ging. Die Schuldgefühle waren noch immer da, aber sie waren nicht so stark, wenn es Levi war, auf den sie hätten zeigen müssen. Ich konnte mich selbst so sehr hassen, wie ich wollte. Levi zu hassen schien wie eine Unmöglichkeit.

Ich wusste, dass ich für den Moment nur einer Kugel auswich, die ich früher oder später doch noch fangen musste. Aber für den Moment, für diesen schmerzhaften Anfang schien es wie eine Last, die von meinen Schultern fiel. Ganz besonders, weil Finn mir seit ein paar Wochen wieder in die Augen schauen konnte, wenn ich auf dem Laufband stand.

Wir hatten rein gar nichts gepackt, waren völlig unüberlegt und mit einem aufgeregten Gefühl in der Magengegend in seinen Wagen gestiegen und waren plötzlich auf der Autobahn gewesen. 

Es war völlig verrückt und lächerlich – aber mein Herz fühlte sich so voll und warm an, dass ich dachte, es würde jeden Moment aus meiner Brust springen. Und es waren diese Momente, die alles in das rechte Licht zu rücken schienen. Die mir zeigten, dass ich nicht umsonst jeden Tag darum kämpfte, meine Obsession, meine Sucht, hinter mir zu lassen. Nicht, wenn ich Levis Arme um mich spürte, seine Atemzüge, die meine Halsbeuge streiften, das Rauschen der Wellen hörte und den kühlen Wind fühlen konnte.

Nataschas Frage tauchte in meinem Verstand auf, als Levis Finger sich mit meinen verschränkten.

Wer bist du, wenn du das Ballett nicht mehr hast?

Jemand, der nicht länger leiden wollte.

phantomschmerz | ✓Where stories live. Discover now