Kapitel 37

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Königreich Anchor, Hauptstadt Alystowe

In Hunter braute sich etwas zusammen, das größer war, als jede Wut die er vorher gespürt hatte. Es war so groß, dass es jede Vernunft, die sich noch in ihm befunden hatte, zunichtemachte. Es war ein Orkan an Gefühlen, die alle gleichzeitig nach außen dringen wollten und sich schließlich in einem mächtigen Schlag bündelten.

Tay war tot.

Er hatte dieses Leben für sie begonnen, um sie zu schützen, um ihr ein normales Leben zu ermöglichen. Das war immer sein einziges Ziel gewesen. Er hätte jede Strafe auf sich genommen, wenn sie dadurch in Sicherheit gewesen wäre. Aber jetzt spielte nichts davon mehr eine Rolle.

Er verspürte ein winziges bisschen Erleichterung, bei dem Gedanken, nun endlich die Wahrheit sagen zu können. Er war unschuldig! Und dieser Mann, egal welchen hohen Titel er auch trug, hatte nicht das Recht, etwas anderes zu behaupten.
Er legte seine ganze Kraft in den Schlag.

Doch sein Gegner hatte ebenfalls sein Schwert gehoben und nun prallten die beiden Klingen mit lautem Klirren aufeinander.

War er ein schlechter Mensch, wenn er erleichtert war, über die Freiheit, nun endlich die Wahrheit sagen zu können? Schließlich war das nur möglich, weil sie tot war. Ermordet. Angeblich von den Jägern des Eises. Aber das war unmöglich, dann hätte Hunter davon gewusst.

Egal wer es getan hatte, er würde die Täter finden und zur Strecke bringen. Er würde Tay rächen. Und mit diesem Mann würde er anfangen. Er konnte keine Rücksicht darauf nehmen, dass es sich um Cyras Vater handelte.

Der Wunsch, jemanden sein Schwert in den Bauch zu rammen und Blut spritzen zu lassen, war übermächtig. Jemand musste für Tays Tod bezahlen. Und ihm war völlig egal, um wen es sich dabei handelte.
Er hob sein Schwert erneut, schlug, mit blinder Wut, wie ein Anfänger, der sich zu sehr von seinen Gefühlen leiten ließ. Am Rande nahm er war, dass sich noch mehr Wachen näherten, vermutlich um ihrem

Herzog beizustehen.
Hunter achtete nicht darauf. Sein Blick galt einzig und allein den kalten blauen Augen vor ihm.

Erneut prallten ihre Schwerter aufeinander und diesmal musste Hunter leicht in Knie gehen um den Schlag abzufedern. Nach dem wochenlangen Gefängnisaufenthalt war er bei weitem nicht in bester Verfassung.

Er wich ein wenig zurück, versuchte seine Kräfte zu sammeln. Und vergaß dabei die wichtigste Regel: behalte immer alle deine Gegner im Blick und lass nicht zu, dass sie sich in deinen Rücken schleichen.

Nur eine flüchtige Bewegung im Augenwinkel warnte ihn vor der zusätzlichen Gefahr. Er wich nach links aus und bemerkte, dass Kieran ebenfalls in Kämpfe verstrickt war. Aber seine Bewegungen waren fast zaghaft, er schien niemanden ernsthaft zu verletzen. Er verteidigte sich nur mit zwei Dolchen, ein Nachteil, bei so vielen Gegnern mit längerer Reichweite, aber Hunter hatte sein Schwert genommen. Auch darauf konnte er keine Rücksicht nehmen.

Cyra stand am Rand, dicht bei den leicht schiefen Häusern, die sich eng aneinander schmiegten und dessen Fassaden langsam bröckelten. Sie starrte zu ihm hinüber, ohne etwas zu tun, als wäre sie zu einem Eisblock erstarrt. Kaum zu glauben, dass sie wirklich eine Adelige war. Die Tochter eines Herzogs. Aber er konnte es sich nicht erlauben, noch mehr abgelenkt zu werden.

Von links und rechts rückten nun noch mehr Wachen auf ihn zu, während der Mann mit den kalten Augen und dem fast ausdruckslosen Gesicht nur noch wenige Schritte entfernt war. Hunter hob das Schwert, um erneut zu parieren.
Die nächsten Schläge kamen fast ohne Pause und Hunter musste darüber staunen, wie gewandt dieser Mann mit dem Schwert umzugehen vermochte, war er doch mehr als doppelt so alt wie er selbst.

Schmerz durchzog seine Arme und seine Schultern und immer öfter zitterten ihm die Knie, wenn ihre Klingen aufeinandertrafen. Er war wirklich nicht in bester Verfassung. Er hielt das Schwert mit beiden Händen umklammert und wagte nicht, eine Hand zu lösen, aus Angst, die Kraft würde ihn verlassen. Kierans Schwert war schwerer als seine beiden Kurzschwerter, die er als Waffe bevorzugte. Aber die verrotteten wohl nun in irgendeiner Waffenkammer. Oder Clieve hatte sie an sich genommen.

Es spielte keine Rolle, vermutlich würde er heute sowieso sterben. Er hatte eigentlich keine Chance mehr, sobald die ganzen Wachen sich wirklich in den Kampf einmischten. Und Cyras Vater hatte ja bereits angedeutet, dass er sich nicht mehr mit einem Gefängnisaufenthalt oder einer Verhandlung zufriedengeben würde. Wenigstens würde er dann wieder bei Tay sein. Die Götter nahmen jeden in ihre Arme, so hieß es doch, nicht wahr? Wenn er starb, könnte er sie immerhin wiedersehen und sich bei ihr entschuldigen.

Eigentlich hatte Hunter nie wirklich an die Existenz der Götter geglaubt. Aber nun, da er dem Tod bereits so nah war, war die Vorstellung von Göttern und einem Leben nach dem Tod beruhigend.

Er spürte, wie ein beinahe hysterisches Lachen in ihm aufsteigen wollte, als ein plötzlicher Schmerz seine Schulter in Brand setzte und ihn taumeln ließ. Hunter riss den Kopf hoch und sah einen Bogenschützen auf dem gegenüberliegenden Hausdach stehen, der nun erneut einen Pfeil an die Sehne legte. Hunter drehte halb benommen den Kopf und sah einen Pfeil aus seiner Schulter ragen. Ungläubig starrte er darauf, bevor der Schmerz ihn zwang, das Schwert fallen zu lassen. Es glitt aus seinen erschlafften Fingern und fiel mit einem Scheppern zu Boden.

Auf einmal war der Herzog bei ihm und das Schwert durchschnitt die Luft zwischen ihnen. Hunter wollte ausweichen, aber er war zu benommen und wankte nur etwas zurück. Das Schwert durchschnitt den Stoff seines Hemdes mit Leichtigkeit. Sein Gegner trug mit Sicherheit ein Kettenhemd unter dem Mantel.

Erneuter Schmerz durchfuhr Hunter, diesmal so heftig, dass er in die Knie ging. Er presste die Hände auf die entstandene Wunde an seinem Bauch und spürte warmes Blut zwischen seinen Fingern hindurchrinnen.

Seine restliche Kraft verließ ihn mit einem Schlag und er sank auf die Knie. Zwei teuer aussehende Stiefel traten in sein Blickfeld und als er mit einiger Anstrengung den Kopf hob, blickten zwei kalte Augen auf ihn hinab. Herzog Virdin hatte die ausdruckslose Maske abgestreift und sah in nun mit unverhohlener Wut an.

Wie ironisch, dass er ihn für dieselbe Tat hasste, für die Hunter ihn hatte töten wollen. Hatte auch er seine Schwester gut gekannt? Hatte sich irgendjemand ihrer angenommen? Er hoffte es sehr.
Vielleicht würde er es bald erfahren. Wenn es die Götter wirklich gab.

»Novás equía«, murmelte Cyras Vater und hob sein Schwert.
Ja, dachte Hunter, vielleicht werde ich jetzt endlich Frieden finden. Ohne Furcht starrte er seinem Tod entgegen.

Und da war plötzlich Kieran neben ihm. Er hielt ein Schwert in der Hand und lenkte den Schlag ab, der Hunter ansonsten ins Jenseits geschickt hätte. Kurz war Hunter sich nicht sicher, ob er vielleicht halluzinierte, schließlich war er schwer verletzt, aber dann wich Herzog Virdin mit wutverzerrtem Gesicht einige Schritte zurück.

»Halt!«, rief Kieran. Er ließ das Schwert sinken, das er wohl einer Wache abgenommen hatte. Als er weitersprach, klang seine Stimme beinahe ergeben. »Hört auf.«

»Du hast deine Chance auf Gnade vertan!«, erwiderte der Herzog mit kalter Stimme. Er nickte den Wachen zu. »Beendet das.«

Kieran warf einen Blick auf Hunter. Es wirkte fast entschuldigend. Dann hob er die rechte Hand und ließ das Schwert aus der Linken gleiten.

Schneeflocken setzten sich in sein schwarzes Haar, immer mehr fielen vom Himmel und bedeckten die Erde mit reinem Weiß.

Seine Stimme klang anders, als er nun wieder sprach. Selbstbewusst und autoritär. Sie wurde über den Lärm der Wachen mühelos hinweggetragen.

»Haltet ein! Ich befehle es euch beim Willen des Königs! Ich befehle es durch die mir verliehene Macht, als Kronprinz dieses Reiches!«

Und plötzlich war er ein Anderer.

Snow Hunter - gefährliches ErbeWhere stories live. Discover now