Kapitel 19

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Königreich Anchor, wilder Wald

Cyra kannte solche Träume eigentlich schon zur Genüge. Seit dem Überfall vor knapp zwei Jahren, suchten sie sie immer wieder heim. Oft in stummen, dunklen Nächten, in denen sie meinte, im Wind Tays verzweifelte Schreie zu hören.

In ihren Träumen starb ihre Freundin auf die unterschiedlichsten Arten; niemals so, wie in Wirklichkeit, aber eines blieb immer gleich: es gelang ihr nicht, sie zu retten.

Auch dieses Mal, war es ihr nicht gelungen, und doch ... irgendetwas war anders.

Die Worte, die sie in die dunkelsten Ecken ihres Gedächtnisses verbannt hatte, waren wieder an die Oberfläche geschwappt. Sie hatten sich ihren Weg gebahnt, wie der fließende Strom eines Flusses. Und waren nun hervorgebrochen, in einem ihrer schrecklichsten Träume.

Und nun konnte Cyra etwas auffallen, dass sie vorher nie verstanden hatte. Tay sprach von schwarzen Sonnen, die sie überleben würden. Es waren ihre letzten Worte an Cyra gewesen, die letzten Worte, die sie ihr zugeflüstert hatte, kurz bevor sie ihr Leben ausgehaucht hatte.

Cyra erinnerte sich nur noch verschwommen daran, Tays Worte hatte sie noch nie zuvor so bewusst gehört, wie in diesem Traum. Aber wieso kamen sie ihr nun so vertraut vor? Schwarze Sonnen erinnerten sie nun unwillkürlich an das Symbol der Angreifer und des Mannes in Alystowe. Sprach Tay etwa von den tätowierten untergehenden, schwarzen Sonnen, die Hunters und Kierans Verfolger am Handgelenk trugen?

Hatte sie etwas darüber gewusst? Und wenn es so war, wurde sie vielleicht deswegen umgebracht?

Cyra konnte sich nicht daran erinnern, dass einer der Mörder eine Tätowierung gehabt hatte. Aber das musste nichts heißen.

Sie setzte sich auf und sah nach oben. Die Wolken hatten sich verzogen und gaben den Blick frei, auf einen dunkelblauen Nachthimmel und kleine leuchtende Sterne, die zwischen den Ästen der Bäume hervorlugten.

Das Feuer war mittlerweile ausgegangen und nur der halbvolle Mond sorgte dafür, dass sie überhaupt etwas erkennen konnte.
Kieran und Hunter schienen noch fest zu schlafen und hatten ihr den Rücken zugekehrt.

Cyra erhob sich und bahnte sich den Weg zu einer kleinen Stelle, wo der Himmel frei über ihr lag und von keinem Blätterwerk verdeckt wurde.
Während sie hinaufblickte, rief sie sich Tays letzte Worte noch einmal in Erinnerung.

Konnte Tayanna wirklich etwas über das Symbol gewusst haben? Oder waren ihre Worte einfach nur eine Metapher gewesen?

Cyra wusste nichts über Tays Vergangenheit, wusste nicht, wo sie gelebt hatte, bevor sie mit dreizehn Jahren nach Faronville gekommen war.

Sie hatte bei Ania gewohnt, von der sie immer nur gesagt hatte, sie wäre so eine Art Tante von ihr. Cyra hatte immer angenommen, ihre Eltern wären an irgendeiner Krankheit gestorben.

Als hinter ihr ein Ast knackte, zuckte Cyra erschrocken zusammen und spähte angestrengt hinter sich in die Dunkelheit.

Zwischen den Bäumen löste sich eine Gestalt, und als sie näherkam, erkannte Cyra Kierans Umrisse.
Er ließ sich langsam neben ihr nieder.

Cyra beobachtete ihn mit Misstrauen. War er ihr etwa gefolgt?

»Was tust du denn hier?«, fragte sie mit gedämpfter Stimme.

»Ich bin aufgewacht und habe gemerkt, dass du nicht da bist. Ich habe mir Sorgen gemacht und wollte nach dir sehen.«

»Mir geht es gut.« Warum sollte er sich Sorgen um sie machen? Sie kannten sich doch gar nicht.

Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander und blickten in den endlos scheinenden Himmel.

Es war Kieran, der schließlich das Schweigen brach. »Wer ist Tay?«

Snow Hunter - gefährliches ErbeOù les histoires vivent. Découvrez maintenant