Kapitel 45

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Königreich Anchor, Hauptstadt Alystowe

Hunter fand Eliphas im riesigen Garten des Schlosses, auf einer Bank unter einem gigantischen Baum, mit fast durchsichtigen Blättern. »Du magst es, einfach so davonzubrausen, nicht wahr?«

Es durfte nicht zur Gewohnheit werden, dass es Hunter zufiel dem davoneilenden Prinzen hinterherzurennen.

Er war tatsächlich ein Prinz, daran hatte sich Hunter noch nicht gewöhnt. Es schien so surreal, dass der Junge, mit dem er trainiert und die letzten Monate umhergezogen war, von adeliger Geburt war. Er hätte der zweitmächtigste Mann im Land werden können, hätte er nicht ein anderes, weniger ehrenvolles Leben gewählt.

Er ließ sich seufzend neben den Prinzen fallen. »Du hast deinem Vater nicht die Wahrheit gesagt.«
Eliphas schwieg.

»Du hast ihm gesagt, dass du die kompletten drei Jahre bei den Jägern warst.«

»Tut mir leid, dass du lügen musstest.«

Hunter lehnte sich zurück und betrachtete den wolkenverhangenen Himmel. »Darum geht es nicht.« Er machte eine Pause. »Was hast du in der Zeit gemacht, bevor du den Jägern beigetreten bist?«

Eliphas schwieg.

Hunter schüttelte den Kopf. »Wir sind nicht mehr bei den Jägern, weißt du? Du kannst es mir sagen.«

Als sein Freund erneut stumm blieb warf Hunter entnervt die Hände in die Luft. »Du kannst deine Geheimnisse also weder mir noch deinem Vater verraten, ja? Du lässt ihn lieber in dem Glauben, dass du jetzt für immer hierbleiben und ein Vorzeigeprinz werden wirst?«

Nun schüttelte Eliphas den Kopf. Seine goldblonden Locken fielen ihm in die Stirn. Noch etwas, an das Hunter sich gewöhnen musste. Das pechschwarze Haar gehörte der Vergangenheit an.

»Du verstehst das nicht.«

»Nein«, erwiderte Hunter. »Wie auch?«

»Ich kann ihm nicht sagen, was ich getan habe und ich kann ihm nicht sagen, warum ich nicht bleiben kann.« Eliphas Stimme klang erstickt.

Hunter seufzte wieder und blickte zu den zart rosafarbenen Blättern des Baumes auf, die sich im sanften Wind hin und her wiegten. »Das ist ein Ténambri«, murmelte er.

Als er noch klein gewesen war, hatte seine Mutter seiner Schwester und ihm immer davon erzählt. Er hatte sich immer vorgestellt, wie er eines Tages vor diesem Baum stehen und seinen tiefsten Wunsch gezeigt bekommen würde. Die Erinnerung an seine Mutter war schwach und sie versetzte ihm einen schmerzvollen Stich.

Er hatte das alles in einen tiefen Winkel seines Gedächtnisses verbannt und die Tür dazu fest verschlossen. Aber seine Mutter hatte ebenso weißes Haar gehabt wie er, da war er sich fast sicher.

Hatte Tay sich auch manchmal an ihr altes Leben erinnert und es sich schmerzlich zurückgesehnt? Oder hatte sie das alles einfach nur vergessen wollen? Es war einfacher, zu vergessen. Es tat nicht so weh.

»Man sagt, er zeigt einem seine tiefsten Wünsche«, fuhr er fort und blickte zu Eliphas, der die Ellenbogen auf seinen Oberschenkeln aufstützte und den Kopf in den Händen vergrub. »Was ist dein tiefster Wunsch, Eliphas?« Es fühlte sich seltsam an den neuen Namen auszusprechen. Fast hätte er wieder Kieran gesagt. »Was möchtest du?«

»Ich möchte, dass das alles aufhört«, flüsterte Eliphas zwischen dem Vorhang aus Haaren.

»Du möchtest also kein Fest zu deinen Ehren?«, fragte Hunter, um die Stimmung etwas aufzulockern.

Der Prinz lachte nicht. Stattdessen sah er auf und Hunter stellte fest, dass seine Augen feucht schimmerten. Hunter hatte Kieran niemals weinen sehen, nicht einmal damals beim Training, als alle über ihn gelacht hatten und Shakura ihm gesagt hatte, dass er nicht zu ihnen passen würde. Niemals, in mehr als zwei Jahren, in denen sie jede Menge Schmerzen ertragen hatten.

»Es geht nun einmal nicht darum, was ich gerne möchte. Ich bringe hier alles durcheinander. Die Lords sehen in mir eine Bedrohung, sie werden mich sowieso niemals akzeptieren. Mein Vater wird vermutlich bald sterben und lebt seine letzten Momente lieber eine schöne Illusion, als sich der Wahrheit zu stellen und es gibt niemand, der das alles wirklich verstehen kann weil ... verdammt!«

Wütend wischte er mit dem Ärmel seines Umhangs über seine Wangen.

Hunter verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Du bist ein ziemlicher Schwarzmaler, weißt du das?«

Eliphas sprang auf und hob hilflos die Hände. »Was soll ich denn tun?«

Hunter beugte sich vor und sah ihm fest in die Augen. »Du könntest damit anfangen, es mir zu erklären und mit deinen ganzen Geheimnissen aufzuräumen!« Er hatte noch immer nichts über das seltsame Symbol verraten und es war sicher nicht das einzige Geheimnis, das er noch immer vor ihm verborgen hielt.

Eliphas stieß die Luft aus, sie bildete weiße Wölkchen in der kalten Luft. »Du würdest mich für einen anderen Menschen halten.«

»Das kann ich entscheiden, wenn ich gehört habe, worum es geht.«

Eliphas entfernte sich einige Schritte von ihm, als hätte er Angst, Hunter könnte ihn schlagen, wenn er ihm zu nah stand und hörte, was er ihm erzählen wollte. Er sah hinauf zu den fast durchsichtigen Blättern des Ténambri.

»Ich habe sie getötet«, murmelte Eliphas so leise, dass Hunter sich nicht sicher war, ob er ihn richtig verstanden hatte.

»Wie bitte?«

Der Prinz mit den goldenen Locken hob den Blick und sah Hunter aus glänzenden Augen an. »Das ist der Grund, warum ich damals fortgehen musste. Warum ich es nicht aushalte, hier zu sein. Es ist meine Schuld.« Er sog zittrig die Luft ein. »Ich habe meine Mutter getötet.«

Snow Hunter - gefährliches ErbeWhere stories live. Discover now