Kapitel 62

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Königreich Anchor, Hauptstadt Alystowe

»Es ist nicht deine Schuld«, sagte Cyra und meinte es auch so.

Eliphas konnte nichts dafür, dass Tay gestorben war, dass konnten lediglich ihre Mörder. Sie konnte nur hoffen, dass Hunter das ebenfalls erkennen würde. Irgendwann.

»Ich werde ihm nachgehen«, murmelte sie, von dem Wunsch getrieben, so viel Abstand wie möglich zwischen sich und den Leichnam des Königs zu bringen.

Und außerdem konnte sie Eliphas verzweifeltes Gesicht nicht ertragen.

Sie würde ihm so gerne die Last von seinen Schultern nehmen, aber sie wusste nicht, wie sie das anstellen sollte.

Auch wenn der Prinz im Prinzip für all das nichts konnte, hatte doch sein Handeln dafür gesorgt, dass es so gekommen war.

Mit schnellen Schritten eilte sie Hunter hinterher und holte ihn im Flur vor dem Thronsaal ein. Sie hielt ihn mit einer Hand am Ärmel zurück. »Warte.«

Er blieb stehen, sah sie aber nicht an.
»Es ist nicht fair, ihm die Schuld dafür zu geben«, sagte sie.

Hunter löste ihren Griff von seinem Ärmel und fuhr sich mit beiden Händen durchs Gesicht. »Ich weiß«, murmelte er. »Aber ich kann nicht anders. Jedes Mal wenn ich daran denke, dass sie Tay getötet haben, werde ich so wütend. Und sie wurde von einem Orden getötet, den er ins Leben gerufen hat!«

»Du kannst ihn nicht dafür verurteilen, dass er etwas Gutes hatte tun wollen«, wiedersprach Cyra.

Er lächelte schwach. »Du siehst immer das Gute in Menschen.«

Da war sich Cyra nicht so sicher. Aber sie wiedersprach ihm nicht. »Was wirst du jetzt tun?«

Hunter zuckte die Schultern. »Ich kann nicht hierbleiben. Ich kann nicht jeden Tag sein Gesicht sehen und versuchen, ihn nicht für Tay verantwortlich zu machen. Er wird das Königreich alleine zu einem besseren Ort machen müssen.«

Cyra nickte, sie war nicht wirklich überrascht. »Tay wird immer in unseren Herzen weiterleben«, sagte sie bestimmt. »Ich werde nicht zulassen, dass sie in Vergessenheit gerät.«

Hunters Augen glänzten. »Sie konnte sich glücklich schätzen, dich zur Freundin zu haben.«

Im nächsten Moment zog er sie zu sich heran und schloss sie in seine Arme. Cyra genoss das geborgene, warme Gefühl das es ihr gab, wohlwissend, dass es das letzte Mal sein würde.

Es war fraglich, ob sie sich jemals wiedersehen würden. Also legte sie den Kopf an seine Schulter und dachte an Tayannas warme, grüne Augen und ihr lachendes Gesicht und sie wusste, Hunter dachte dasselbe.

Tay würde sie immer ebenso verbinden, wie die Teile ihrer Seelen, die in Escanda ruhten.
Als er sie wieder losließ, war sein Lächeln fast echt. »Ich habe gehört, Nevan wird hierbleiben und Eliphas unterstützen.«

Cyra nickte bekräftigend. »Er will wohl wiedergutmachen, was er getan hat.«

Hunter seufzte. »Wir haben wohl alle eine ganze Menge wiedergutzumachen.«

»Wirst du zurück zu den Jägern gehen?«

Hunter zögerte. »Ich weiß es nicht. Ich kann mein Leben nicht so weiterführen, wie bisher. Aber die Jäger waren lange Zeit so etwas wie meine Familie. Ich weiß nicht, ob ich das komplett hinter mir lassen kann.« Er sah sie fragend an. »Und was wirst du tun?«

Das war die große Frage. Cyra wusste, ihr Vater fühlte sich für Eliphas verantwortlich, jetzt, da der König nicht mehr da war. Er hatte dem Prinzen seine Unterstützung zugesichert und Eliphas war sehr erleichtert gewesen, zu hören, dass Herzog Thyron noch in Alystowe bleiben und ihm helfen würde, sich einzufinden.

Aber Cyra verspürte nicht das Verlangen, zu bleiben. Vielmehr zog es sie in die Ferne, in der sie hoffte, endlich ihre Bestimmung zu finden. Sie wollte die Welt sehen, sie wollte die Magie besser kennenlernen und das konnte sie nicht, wenn sie ständig am selben Ort verweilte.

Sie legte den Kopf in den Nacken und sah zu Hunter hoch. »Ich denke, ich werde auch nicht hierbleiben.«

»Hast du das schon Eliphas gesagt?«
Sie schüttelte den Kopf. Sie fürchtete sich ein wenig davor, ihn alleine zu lassen. Wenn Hunter und sie weggingen, wen hatte er dann noch, dem er bedingungslos vertrauen konnte?

Sie spürte Hunters Hand auf der Schulter. »Mach dir keine Sorgen. Er ist der König oder? Er wird das schaffen.«

Cyra zwang sich zu einem Lächeln. Das musste er wohl.

***

Hunter verließ Alystowe am nächsten Tag in tosendem Schneetreiben. Er hatte nicht bis zur Krönung warten wollen und Cyra fragte sich, wo er wohl nun sein mochte, während ihr Vater eine goldene Krone auf Eliphas Haupt setzte und alle im Thronsaal auf ein Knie niedergingen.

***

Zwei Tage später stand Cyra im Vorhof und streichelte die weiche Nase ihres Pferdes. Es war bereits fertig gesattelt und sie hatte gerade den restlichen Proviant in den Satteltaschen verstaut. Ein wenig wehmütig sah sie an den hohen Türmen des Schlosses empor.

Ihr Vater trat neben sie. »Richte deiner Mutter und deiner Schwester liebe Grüße von mir aus.« Er schenkte ihr ein seltenes, schiefes Grinsen. »Und erwähne die Vorfälle nicht in aller Ausführlichkeit.«

Cyra erwiderte sein Lächeln. »Mach dir keine Sorgen.«

In diesem Moment trat Eliphas durch das Tor auf sie zu. »Cyra«, sagte er.

Er hielt Escanda in den Händen. »Du brichst auf?«

Sie nickte. Wollte er sie doch aufhalten? Er hatte ihr versichert, dass es in Ordnung sei, wenn sie ging, aber sie hatte ihm nicht so recht geglaubt.

»Würdest du Escanda in deine Obhut nehmen?«, fragte er und streckte ihr das Schwert hin. »Ich ... ich denke, bei dir wäre es besser aufgehoben.«

Überrascht nahm sie das magische Schwert entgegen. Sie spürte, wie seine Macht unter ihren Fingern pulsierte. »Ich werde darauf aufpassen«, versprach sie.

Sie konnte verstehen, dass er sich vor der Macht der Klinge fürchtete, die seinen Großvater dazu getrieben hatte, seine Geliebte zu töten.

»Und pass bitte auch auf dich selber auf«, sagte ihr Vater mit ernstem Blick.

Er hatte sehr viel Zeit darauf verwendet, ihr die ganze Sache ausreden zu wollen, aber Cyra hatte nicht nachgegeben und letztlich hatte er eingelenkt.

Cyra würde ihre Reise fortsetzen. Sie würde fremde Welten erkunden und fremde Kulturen kennenlernen.

Aber zuerst würde sie ihrer Heimat einen Besuch abstatten. Sie hatte jetzt keine Angst mehr vor den Schatten der Vergangenheit und vielleicht würde sie es endlich schaffen, Tays Grab einen Besuch abzustatten. Sie hatte es fest vor.

Sie schwang sich in den Sattel und sah auf den König und ihren Vater herab. »Ich werde wiederkommen«, versprach sie. »Und dann werde ich eine ganze Menge zu berichten haben.«

Auf ihrem Gesicht lag ein Lächeln, als die davonritt.

Snow Hunter - gefährliches ErbeWhere stories live. Discover now