Kapitel 46

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Königreich Anchor, Hauptstadt Alystowe

Hunter starrte ihn an und war sich sicher, sich erneut verhört zu haben.

»Was?« Das konnte nicht wahr sein!

Das passte doch nicht zusammen, schon gar nicht mit der Person, die er kennengelernt hatte und die sich immer geweigert hatte, Unschuldigen das Leben zu nehmen.
Eliphas sah zum grauen Himmel empor, seine Augen wirkten seltsam leer.

»Es ist meine Schuld«, murmelte er. »Ich hatte es nicht unter Kontrolle.«

Hunter erhob sich, war kurz davor, seinen Freund zu schütteln und ihn dazu zu bringen, das alles als Witz abzutun.

»Königin Nuala war krank«, widersprach er lahm. Das wusste jeder.

Eliphas nickte. »Es ist meine Schuld. Ich habe sie getötet.«

»Du willst mir sagen, dass du deine Mutter getötet hast?«, wiederholte Hunter ungläubig.

Das Lächeln, das Eliphas ihm zuwarf, war unendlich traurig. »Ich bin nicht der, für den du mich gehalten hast, Hunter. Ich habe die Kontrolle verloren.«

»Was?«, sagte Hunter noch einmal.

»Ich bin ein Magier.«

Hunter schüttelte den Kopf. »Das kann nicht sein.« Das passte doch alles nicht zusammen.

»Damals habe ich die Kontrolle verloren«, sagte Eliphas erneut. Tränen standen in seinen Augen. »Ich habe eine viel zu hohe Menge an Magie konzentriert. Ich war wütend auf sie, ich war wütend auf alle, weil ich nicht das Leben führen konnte, das ich wollte. Weil ich diese blöden Lektionen bei Magier Alaster machen musste. Die Magie hat sie völlig eingehüllt. Kurz darauf wurde sie schwer krank. Ich habe immer gehofft, dass ich sie heilen könnte, dass Alaster sie heilen könnte. Aber magische Krankheiten sind nicht wie andere. Sie starb wegen mir. Als sie von uns ging, hielt ich es nicht mehr aus, ich hielt die Schuldgefühle nicht mehr aus. Also ging ich fort.«

»Das ergibt doch keinen Sinn«, murmelte Hunter. »Wenn du ein Magier wärst, würde das Königreich doch davon wissen.«

Eliphas schüttelte den Kopf. »Es war – und ist bis heute – ein bestgehütetes Geheimnis der Königsfamilie. Meine Eltern und Magier Alaster befanden es als zu riskant, es öffentlich zu machen. Schon damals wurden viele Stimmen laut, die den Rücktritt von Alaster forderten. Mein Vater fürchtete, die Lords würden mich nicht akzeptieren, wenn sie es wüssten. Oder jemand würde es gegen uns verwenden. Also ging ich heimlich bei Alaster in die Lehre.«

Hunter wollte es immer noch nicht glauben. »Wozu hast du dann Nevans Hilfe gebraucht? Wieso hast du uns nicht einfach ... verschwinden lassen, wie er es getan hat?«

Eliphas seufzte. »Weißt du, Magier können die Anwesenheit eines anderen Magiers innerhalb einer bestimmten Reichweite spüren. Als mir klar wurde, dass noch ein Magier in Alystowe war, schien mir das der bessere Weg, um mein Geheimnis zu bewahren. Ganz davon abgesehen, dass ich meine Ausbildung damals abgebrochen habe und gar nicht in der Lage wäre, irgendetwas verschwinden zu lassen.«

Hunter starrte ihn an, die tieftraurigen, schuldbewussten Augen, die beinahe um Vergebung schrien. Er schien erleichtert das alles endlich losgeworden zu sein und dennoch fürchtete er Hunters Reaktion.

Hunter wollte sich gar nicht vorstellen, wie schrecklich es für einen 15-jährigen Eliphas gewesen sein musste, als er festgestellt hatte, dass seine Mutter wegen ihm gestorben war.

Es erinnerte ihn an Tay. Wie schrecklich hatte sie sich gefühlt, wegen der Tat, die schwer auf ihren Schultern lastete? Es musste grauenvoll gewesen sein. Und er wusste bis heute nicht, was dazu geführt hatte. Es sei denn ... wenn außer Kontrolle geratene Magie tödlich sein konnte ... aber nein, das war unmöglich.

»Es tut mir leid«, sagte Eliphas.
Hunter sah ihn an und war sich nicht sicher, ob er die nächsten Worte wirklich hören wollte.

»Ich denke, deine Schwester war auch eine von uns«, erklärte Eliphas und sah ihn entschuldigend an. »Es ist die einzige, plausible Erklärung. Es kommt nicht selten vor, dass Magier die Kontrolle verlieren, vor allem, wenn sie keine richtige Ausbildung erhalten.«

Hunter setzte sich wieder. »Du meinst ... sie war wie du?«

Eliphas nickte.

Hunter spürte eine unfassbare Erleichterung. Er hatte es nie gesagt, er hätte es auch sich selbst gegenüber niemals zugegeben, aber die Zweifel waren immer da gewesen.

Die Zweifel, dass Tay einfach den Verstand verloren hatte oder tatsächlich grausam war. Aber sie war nicht verrückt gewesen. Sie war einfach nur ... Magierin.

Das war besser als all die anderen Optionen. Trotzdem blieb es schrecklich und die Traurigkeit in seinem Herzen würde bestehen bleiben.

Aber es war zumindest ein winzig kleiner Trost, auch wenn sie sich furchtbar dabei gefühlt haben musste, nicht zu wissen, ob es wieder passieren könnte oder was genau eigentlich mit ihr geschah.

Er sah wieder zu Eliphas, der ihn stumm betrachtete. Tay war tot, ihr konnte er die Last nicht mehr erleichtern. Aber er konnte versuchen, Eliphas einen Teil davon zu nehmen.

»Es ist nicht deine Schuld«, sagte er sanft.

»Wessen sonst?«, fragte der Prinz verächtlich.

Hunter schüttelte entschieden den Kopf. »Tay war nicht schuld an den Toden in unserem Dorf, das weiß ich jetzt. Aber ebenso wenig kann man dir einen Vorwurf machen, dass du Kräfte nicht kontrollieren konntest, die die Meisten von uns nicht einmal verstehen.«

Eliphas lächelte traurig. »Seit wann bist du der Vernünftige von uns beiden?«

Hunter zwang einen unbeschwerten Ausdruck in sein Gesicht. »Seit du ein Prinz bist und jemanden brauchst, der dir in den Arsch tritt!«

Sein Lächeln wurde eine Spur breiter. »Ich danke dir.« Die Verletzlichkeit verschwand aus seinem Blick und er atmete tief durch.

»Wirst du das Angebot meines Vaters annehmen und noch etwas hierbleiben? Ich könnte auch in Zukunft jemand gebrauchen der mir einen Arschtritt verpasst.«

Hunter legte den Kopf schief und grinste. »Das mit der Magie ... kannst du mir das beweisen?«

Eliphas zog eine Augenbraue nach oben. »Es ist das bestbehütetste Geheimnis meiner Familie.«

»Und?«

Der Prinz seufzte und sah sich im Garten um. Sie waren allein. Er schob die Ärmel seines Mantels nach oben und streckte die Handfläche aus. Kurz darauf tanzten grüne Flammen über seiner Hand.
Hunter starrte erstaunt darauf.

»Unglaublich.«

Eliphas machte eine Handbewegung und die Flammen verschwanden.

Schnell zog er den Ärmel wider tiefer, als wäre ihm das Ganze plötzlich schrecklich unangenehm.

»Ich benutze seit damals eigentlich keine Magie mehr«, murmelte er.

»Ich fühle mich geehrt«, meinte Hunter ironisch aber Eliphas Gesichtsausdruck hatte sich bereits wieder verdunkelt. Er starrte auf seine Hand, als könnte er selbst nicht fassen, was er da gerade gesehen hatte.

Den Blick auf irgendetwas in der Vergangenheit gerichtete, das für Hunter nicht greifbar war, schob er die Hände in die Taschen seines Umhangs und hob den Blick. »Es tut mir leid, dass du in das alles hineingezogen wurdest.«

»Mir nicht«, erwiderte Hunter bestimmt. Er hätte sonst nie die Wahrheit über Tay erfahren. Und auch wenn die Wahrheit schmerzte, so war er doch froh, sie zu kennen.

Er legte Eliphas eine Hand auf die Schulter. »Lass mich dir noch einen klugen Ratschlag geben: Vergiss niemals, wer du bist. Und vergiss auch nicht, wer deine Freunde sind.«

Snow Hunter - gefährliches ErbeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt