Kapitel 31

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Königreich Anchor, Hauptstadt Alystowe

Cyra saß auf einer Bank im riesigen Garten des Schlosses und starrte zum blauen Himmel empor. Es hatte aufgeklart und mittlerweile waren nur noch vereinzelte Wolkenfetzen zu sehen. In der Sonne waren die Temperaturen beinahe angenehm, etwas sehr Ungewöhnliches, zu dieser Zeit und Cyra hatte sich einen dünneren Umhang locker um die Schultern gelegt.

Sie betrachtete den hoch gewachsenen Baum, dessen fast durchsichtige Blätter das Sonnenlicht reflektierten. Der Ténambri war selten und hatte Cyra schon immer fasziniert. Die Blätter, die bis auf einen zarten rosa Schimmer farblos erschienen, konnten, den Legenden nach, die tiefsten Wünsche eines Menschen widerspiegeln.

Als Kind hatte sie sich liebend gerne Geschichten darüber angehört. Mittlerweile wusste sie natürlich, dass nichts Wahres daran sein konnte und doch fragte sie sich, was ihr die Blätter zeigen würden, hätten sie wirklich die Fähigkeit ihre Wünsche zu erkennen.

Wenn sie jetzt jemand fragen würde, was ihr größter Wunsch war, könnte sie ihm keine Antwort geben.
Sie seufzte tief auf und dachte darüber nach, ob sie Kieran gegenüber ungerecht gewesen war. Sein Wunsch war es im Moment allein, Hunter zu befreien.

Erkannte er wirklich nicht, dass sein Plan zum Scheitern verurteilt war?
Es war viel zu riskant, ihm dabei zu helfen. Und dennoch plagte sie das schlechte Gewissen, es nicht wenigstens versucht zu haben.

Vielleicht würde es ihr gelingen, ihn doch noch umzustimmen. Wenigstens abzuwarten, was ihr Vater zu sagen hatte.

Aber er würde nicht warten, das hatte er ihr unmissverständlich mittgeteilt, kurz bevor sie wütend aus dem Gasthaus gestürmt war.
Sie fragte sich, ob ihre Reaktion ihn verletzt hatte. Aber in seinen Augen war nur kalte Entschlossenheit zu lesen gewesen als er gesagt hatte: »Kurz vor Mitternacht am Seiteneingang. Für den Fall, dass du dich doch noch anders entscheidest.«

Würden sie erwischt werden, war nicht damit zu rechnen, dass sie sie beide hinrichten würden. Cyra zweifelte nicht daran, dass ihr Vater seine schützende Hand über sie halten würde. Aber Kieran? Er war ein Niemand am Königshof, noch dazu ein Mitglied der Jäger. Die Chancen standen gut, dass er neben Hunter zu seiner Exekution laufen würde.

Und vielleicht hatten sie ja wirklich eine höhere Chance auf Erfolg, wenn sie dabei war. Vielleicht wollte sie auch nur den Wunsch rechtfertigen, Kieran bei Hunters Befreiung zur Seite zu stehen. Aber eigentlich spielte das keine Rolle. Sie hatte das Gefühl, es ihm schuldig zu sein und den Nervenkitzel, den es in ihr hervorrief, konnte sie auch nicht ganz unterdrücken.

Sie wusste, wo sie kurz vor Mitternacht sein würde. Und sei es nur, um Kieran davon abhalten zu können, etwas Dummes zu tun.

Die Nacht war kalt. Kieran hielt sich hinter einem Mauervorsprung der Mauer verborgen, die das Gefängnis umgab und hatte den Mantel eng um seine Schultern geschlungen.

Die beiden Wachen, die den Seiteneingang bewachten, schienen ebenfalls zu frieren und ihren mürrischen Mienen nach zu urteilen, waren sie ebenso verärgert über die Verspätung der Wachablösung, wie er.

Kieran lauschte auf Schritte hinter sich, er konnte die Hoffnung nicht ganz abschütteln, dass Cyra doch noch auftauchen würde.

Er versuchte leise, sich in eine bequemere Position zu bringen, er verharrte nun schon zwanzig Minuten in dieser sitzenden Pose.
Als er dann schwere Schritte vernahm, lugte er um die Ecke und sah die Wachablösung den schmalen Gang zwischen den Häuserreihen auf sie zukommen.

Unwillkürlich presste er sich noch etwas mehr in die Schatten des Vorsprungs.
»Das wurde aber auch Zeit!«, murrte eine heisere Stimme, als die beiden neuen Wachen in den Lichtschein der Fackeln traten, die neben dem Eingang befestigt waren.

Snow Hunter - gefährliches ErbeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt