1 - Wolkenverhangen

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Sie konnte es kaum glauben. Sie hatte es geschafft. Sie war frei. Nie wieder diese Schule. Nie wieder ihre Mitschüler. Nie wieder Hetzereien gegen sie wegen ihres Gewichtes. Ein völliger Neustart wartete auf sie. Sie hatte es tatsächlich überlebt. Sie hatte nicht daran geglaubt. Ok, doch. Das hatte sie. Aber erst, seit Florian in ihr Leben getreten war. Also na ja, das war auch irgendwie falsch. Er war ja schon länger Teil ihres Lebens gewesen.

Als Klassenkamerad hatte er die vergangenen Jahre mit ihr die Schulbank gedrückt. Aber erst im letzten Schuljahr waren sie sich näher gekommen. Sie hätte nie zu träumen gewagt, dass jemand wie Flo sich für sie interessieren könnte. Immerhin war er ein riesiges Sport-Ass, schlau, attraktiv und zudem noch nett. Und sie war eben Anna: Nicht sehr groß, dick und hässlich, mit stinknormalen blondem, gelocktem Haar und hellblauen Augen.

Wobei sie sich nicht mehr so hässlich fühlte wie noch vor einem Jahr. Was ebenfalls Florian geschuldet war. Er hatte ihr gezeigt, dass auch in ihr Schönes schlummerte. Dass ihr Aussehen sie nicht definierte. Indem das große Sport-Ass, der beliebteste Junge der Klasse sich in sie – die hässliche Anna – verliebte. Manchmal hatte sie immer noch das Gefühl, sie würde jeden Moment aufwachen und erkennen, dass ihr Hirn ihr einen miesen Streich gespielt hatte. Aber er war da, dachte sie und schaute automatisch auf ihre verknoteten Finger.

„Anna, der Direx ruft dich auf. Du musst jetzt aufstehen und dein Abschlusszeugnis entgegennehmen", raunte er plötzlich und sie wurde rot, als ihr Blick seine blauen Augen in dem attraktiven Gesicht traf, das von halblangem blondem Haar umrahmt wurde.

Sie nickte und stand auf, um auf die Bühne zu gehen und ihr Zertifikat entgegenzunehmen. Sie hatte es echt geschafft. Sie hatte sich durchgeboxt und dabei ein Stück weit zu sich selbst gefunden.

„Ist die Bühne auch stabil, damit dieser Elefant die Bohlen nicht beschädigt?", hörte sie und schluckte gegen den sich sofort bildenden Kloß in ihrem Hals an.

Anna. Du bist Anna. Kein Elefant. Du hast es geschafft. Du musst diese Idioten nie wieder sehen. Künftig bewegst du dich in der Welt der vernünftigen Erwachsenen. Die wissen, dass gutes Aussehen niemanden definiert', sagte sie sich und setzte ein Lächeln auf, als sie die Hand des Direktors schüttelte und ihr Zeugnis entgegennahm.

Sie murmelte ein Danke, als der Direx ihr zum gelungenen Abschluss gratulierte und stellte sich zu jenen, die ihr Abschlusszertifikat ebenfalls schon erhalten hatten. Sie sah ins Publikum und bemerkte, wie Florians Augen vor Stolz und Freude leuchteten, und suchte die Reihen ab. Sie entdeckte Flos Mama Gretel, die ihr zuwinkte und sich sichtlich freute.

Sie hob automatisch die Hand, um zurückzuwinken, während ihr Blick über die anderen freudig erregten Eltern glitt, die ihren Kindern Respekt und Anerkennung zollten. Sie merkte, wie sich ein Kloß in ihrem Hals bildete und schluckte hektisch gegen ihn an, um ihr Lächeln aufbehalten zu können.

Sie zuckte leicht zusammen, als sich plötzlich eine Hand in ihre freie schob und hob den Blick zu Florian, der sie zuerst anstrahlte, ehe er die Stirn runzelte.

‚Scheiße. Er kennt mich wirklich gut', dachte sie und bemühte sich, ihr Lächeln glaubhafter auszufüllen.

Sie wollte das jetzt nicht diskutieren. Sie hatte es geschafft. Sie hatte die Schulzeit überlebt. In ein paar Wochen würde sie mit Florian vom oberpfälzischen Regensburg nach Stuttgart ziehen und da ihre Ausbildung zur Groß- und Außenhandelskauffrau antreten. Flo würde an seinem Traum basteln und ein Studium zum Illustrator beginnen.

Alles würde gutwerden. Ihnen stand ein großes Abenteuer bevor, aber mit ihm an seiner Seite konnte es nur gelingen. Immerhin hatten sie schon einige Abenteuer bestritten. Und sie würde sich endlich, endlich, endlich in der Welt der Erwachsenen, Rationalen, nicht Oberflächlichen bewegen. Es war also alles gut. Kein Grund für Dramen jeglicher Art.

Mein Name ist Anna!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt