18 - Wolkendunkel

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Er sah auf die Uhr. Anna hätte schon vor drei Stunden zuhause sein sollen oder machte sie wieder Überstunden? Wo war sie? Er machte sich wirklich Sorgen. Sie war auch am gestrigen Abend völlig geschafft nach Hause gekommen. Das war doch nicht ok, oder? Sie hatten gleich ins Kino gewollt. Aber sie war immer noch nicht da. Er machte sich Sorgen. Es war doch nichts passiert, oder? Erneut wählte er ihre Nummer und sofort sprang wieder ihre Mailbox an. Es ging ihr gut, oder? Sie war so verdammt blass. So matt. So müde.

Er hatte ihr geraten, zum Arzt zu gehen, doch sie hatte abgewunken. Das wäre nichts, was Schlaf nicht kurieren würde, aber sie schlief ja kaum. Sie lag im Bett und stierte an die Decke. So konnte es nicht weitergehen. Heute würde er mit ihr reden müssen. Was hatte sie ihm nochmal über Streitkultur gesagt? In der Ich-Form seine Gefühle ausdrücken. Ok, das würde er versuchen.

Abermals drückte er auf Wahlwiederholung und erstarrte, als er vor der Wohnungstür etwas hörte. Sofort sprang er auf die Beine und hechtete in den Flur, um die Tür aufzureißen, ehe Anna den Schlüssel ins Schloss stecken konnte. Sie sprang förmlich einen Meter zurück.

„Oh. Hi", sagte sie und ihm fielen fast die Augen aus dem Kopf, als er registrierte, wie sie aussah.

Sie war völlig derangiert. Ihre Locken klatschten nassgeschwitzt an ihrem Kopf, ihre Haut war wächsern und ihre Augen lagen tief in ihren Höhlen. Sie hatte rote Augäpfel, als hätte sie heftig geweint. Er sah, wie der Schlüssel in ihrer Hand zitterte und schüttelte fassungslos den Kopf.

„Hi. Wo warst du Anna?", fragte er um Geduld bemüht, obwohl seine Sorge überkochte.

„Arbeit. Viel zu tun. Dann war ich noch ... Entschuldigung, ich muss...", brach sie ab, drängte sich an ihm vorbei und stürmte ins Klo, wo sie sich geräuschvoll übergab.

Verdutzt schloss er die Tür und folgte ihr. Sie sah hundsmiserabel aus. Sie zitterte am gesamten Körper und er sah die Schweißperlen auf ihrer Stirn. Langsam ließ er sich neben ihr nieder und stützte ihren Kopf ein wenig, hielt ihr die Haare aus dem Gesicht. Sie war also wirklich krank.

Doch dann fiel sein Blick auf das, was in der Schüssel landete und er erstarrte. Das Zeug war so wenig gekaut, dass er noch ausmachen konnte, was sie sich einverleibt hatte! Fuck! Sie brach nicht, weil sie krank war! Sie kotzte, weil sie zu viel gegessen hatte! Fassungslos schwirrte sein Blick zu ihrem Gesicht und bemerkte, dass sie ihn gequält ansah. Sie fühlte sich ertappt, erkannte er und versuchte weiterhin, Ruhe zu bewahren.

Was war los mit ihr, dass sie aufs Neue zu ihrem letzten Mittel griff, Druck abzulassen? Wieso redete sie nicht mit ihm? Er war doch da! Und er hatte sie in den vergangenen Wochen nicht nur einmal gefragt, ob es ihr nicht gutginge! Aber sie hatte geschwiegen und jetzt hatte sie offenbar unkontrolliert gegessen und sich dabei den Magen verdorben! Was sollte der Scheiß?

Als sie matt den Kopf auf die Klobrille legte, fragte er: „Ok, Anna, raus mit der Sprache! Was ist los?"

„Nichts. Ich ... ich hatte schon ... ich bin nicht dazu gekommen Mittag zu essen, deswegen ... mir war schon übel, darum ... ich...", stammelte sie und eine unsagbare Wut erfüllte ihn.

‚Streitkultur', ermahnte er sich und meinte: „Anna, wenn es das gewesen wäre, hättest du nicht wahllos irgendwelche Dinge gegessen, sondern dir vielleicht ein Sandwich geholt, also versuch es nochmal."

„Ich ... aber so war es! Mir war ... ich hatte noch nicht ... was machst du? Wieso stehst du jetzt auf? Flo? Florian?"

„Mach's gut, Anna", sagte er nur, damit er nicht anfing zu schreien, schnappte sich seinen Wohnungsschlüssel, sein Portemonnaie und verließ die Wohnung.

Mein Name ist Anna!Where stories live. Discover now