25 - Wolkenauflösung

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Sie überlegte, was sie darauf antworten sollte, als Lari seufzte und erklärte: „Damals war Jonah knapp 16 Wochen alt. Zwei Monate später war Ela da. Sie ist die einzige Freundin, die mir geblieben war. Alle anderen hatten sich abgewandt, da Larissa nicht mehr so fröhlich und ausgelassen war wie früher. Sondern nur noch übers Essen sprach, weil niemand nachvollziehen konnte, wie das Leben mit einem Baby war, oder stumpfsinnig herumsaß. Und dann, nach Tyrons Rauswurf, nur heulte. Keiner hat das verstanden, Ela auch nicht. Aber sie war trotzdem da und hat meine Tränen getrocknet."

Jetzt stockte Larissa und Anna merkte instinktiv, dass alles vorher noch leicht zu erzählen gewesen war, obwohl sich ihre Freundin schon so gequält hatte. Sie griff nach ihrer Hand und bemerkte, wie Lari ihr einen dankbaren Blick zuwarf, ehe ein Lächeln über ihre Züge flog.

„An dem Tag redete sie mir gerade wieder ins Gewissen, weil ich ihr vorjammerte, ich würde nicht genug abspecken, als Jonah aufwachte. Ich meinte genervt, ich würde ihn fix holen, und dann könne sie mir weiter vorbeten, ich sei bescheuert und würde mir alles nur einbilden. Das dachte ich tatsächlich. Dass sie mich anlog, wenn sie sagte, ich sei ein Skelett auf zwei Beinen. Jedenfalls hob ich Jonah aus seinem Bettchen und mir wurde wieder schwindlig. Was kein Wunder war und zu der Zeit öfter vorkam. Doch diesmal war es schlimmer."

Sie schluckte und wollte Larissa in den Arm nehmen, weil diese nun weinte, aber sie schüttelte den Kopf und meinte: „Nicht. Sonst hör ich nicht mehr auf zu heulen. Ich wachte im Krankenhaus auf. Man sagte mir, dass Ela den Rettungsdienst gerufen hatte, weil es einen dumpfen Knall tat und dann Jonah schrie wie am Spieß. Ich war zusammengebrochen, ihn hatte ich fest an meine Brust gedrückt, aber ich war bewusstlos. Sie bekam mich nicht wach. Im Krankenhaus hatten sie mich sofort zwangsernährt. Ich stand kurz vor einem Multi-Organ-Versagen, weil ich nur noch stolze 35 Kilo wog. Das hat mich betroffen gemacht, obwohl ich insgeheim dachte, die Waage müsse geeicht werden."

Larissa zuckte hilflos mit den Schultern und ihre Stimme klang kratzig, als sie erklärte: „Sie sagten mir, dass in einem Beutel der Lösung, die sie mir per Magensonde einflößten, 1200 Kalorien enthalten waren. Daraufhin zog ich mir panisch die Sonde aus der Nase. Ich war wirklich krank. Da ich mich so nicht um Jonah kümmern konnte und Tyron sich – zum Glück - nach Amerika abgesetzt hatte, verlor ich das Sorgerecht an meine Eltern. Im Krankenhaus sicherten sie mein Überleben und die Aufarbeitung sollte in der Anschlussheilbehandlung beginnen. Ich war nicht davon überzeugt. Ich war schließlich nicht krank, oder? Die bildeten sich alle irgendwas ein."

Sie sah, wie sich ihre Freundin unwirsch die Tränen von den Wangen wischte und fragte: „Aber du bist hier. Du hast es also geschafft. Wie?"

„Es war schwer. Ich weigerte mich, zu essen, aß nur das Nötigste. Aber meistens saß ich im Essensraum und starrte auf den Teller, während ich mir ausrechnete, wie viele Kalorien ich mich hineinstopfen sollte. Da sitzt ein Therapeut neben dir und redet mit dir darüber, was der Anblick dieses Essens mit dir macht. Echt inspirierend. Du musst etwas davon zu dir nehmen, sonst bleibst du sitzen, bis du nachgibst. Ich saß die Anfangszeit oft eine oder zwei Stunden, weil ich nicht begriff, dass mich das Essen gesund machen sollte. Es war der ultimative Feind. So nach zwei Wochen setzte sich plötzlich jemand neben mich. Die anderen hatten schon Freizeit. Ich saß da noch. Ich starrte den Kerl an, der sich einfach mit einem Teller neben mir platzierte, und zu essen begann. Er war groß, hatte blaue Augen, dunkle Haare..."

„Massimo?", entfuhr ihr automatisch und jetzt zupfte ein Lächeln an Laris Mundwinkeln.

„Genau. Massimo. Mit vollem Mund fragte er mich, ob ich nicht Larissa sei, und ich knatschte ihn an, das ginge ihn einen feuchten Dreck an und er solle sich woanders den Bauch vollschlagen. Er zuckte nur mit den Schultern und erklärte mir, er würde genau hier sitzen bleiben, der Tisch hätte die schönste Aussicht. Mir wurde fast übel, weil ich gezwungen war, ihm beim Essen zuzusehen, während in meinem Kopf sich wieder Zahlenreihen auftaten. Plötzlich hakte er nach, ob das Baby, das jedes Wochenende zu Besuch käme, mein Sohn sei, und ich stimmte ihm scharf zu. Erneut nickte er nur und aß seelenruhig weiter. Ich fragte den Therapeuten, ob das in Ordnung sei und der grinste und bejahte. Ich war so wütend", gab Lari zu und sie sah die Szene förmlich vor sich.

Mein Name ist Anna!Where stories live. Discover now