20 - Wetterleuchten

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Er seufzte, schnappte sich seinen Kaffee und beschloss, dass er sich erst mal ein wenig entspannte, ehe er an die Aufräumarbeiten im Schlafzimmer ging. Die Nacht war unruhig gewesen. Immer wieder hatte sie im Schlaf geredet, er solle sie nicht verlassen, sie würde alles durchstehen. Er hatte ihr gelauscht und gehofft, sie würde ihm verraten, was sie meinte, aber dem war nicht so gewesen. Es war nur deutlich geworden, dass sie furchtbare Verlustängste hatte. Die er leider genährt hatte. Er seufzte und öffnete die Tür zum Wohnzimmer, die sonst auch offenstand und erstarrte.

„Ach du Scheiße!", rief er automatisch aus, als er sah, dass ihre Fotos auf dem Boden zwischen weiteren Schnapsflaschen, Essensverpackungen und Untertellern mit Kippen lagen.

Auch hier miefte es, so dass er zuerst den Raum durchquerte, und die Balkontüre öffnete, um Frischluft hereinzulassen. Als er kopfschüttelnd wieder Richtung Tisch trat, fiel sein Blick auf eines der Bilder, die am Boden ausgebreitet waren, und er schluckte hart. Sie hatte ihr Gesicht ausgebrannt. Er strahlte ihm noch entgegen. Aber da, wo ihr Konterfei prangen sollte, war ein Brandloch.

Jetzt kniete er nieder und besah sich die anderen Fotos. Sie hatte das bei jedem gemacht! Wie sehr hasste sie sich eigentlich, wenn sie ihren Anblick auf den Fotografien nicht hatte ertragen können? Er schüttelte erneut fassungslos den Kopf und erhob sich langsam. Er würde länger mit aufräumen brauchen.

Außerdem musste er die Fotos ersetzen. Gut, dass sie diese jedes Mal auch auf einem Datenträger sicherten. Er konnte sie einfach wieder ausdrucken. Er ließ den Blick durch den Raum schweifen und entdeckte ihren Laptop auf dem Tisch stehen. Er war aufgeklappt.

Automatisch trat er zu dem Gerät und wischte über die Tastatur, weil sich da Zigarettenasche befand. Der Bildschirm flackerte und ging an. Er wollte nicht lesen, was dort stand, aber er konnte sich nicht zusammennehmen. Er war auf einer Website, die das Thema hatte, wie man Abscheu auf sich kanalisieren konnte.

Er las die Tipps und stieß auf einen, in dem es hieß, man solle seinen negativen Gefühlen Raum geben, indem man einen Brief an sich selbst schrieb. Das Schreibprogramm war offen. Aber das sollte er nicht lesen, oder? Es war privat. Doch er musste endlich verstehen, was in ihr los war. Denn jetzt beschlich ihn ein richtig ungutes Gefühl.

„Verzeih mir, Arielle", flüsterte er und wechselte die Ansicht zum Textbearbeitungsprogramm.

„Anna, ich hasse dich mit der Glut von tausend Sonnen. Das reicht nicht mal ansatzweise, um meine Gefühle für dich auszudrücken. Du bist ein Nichts! Du hast Florian vergrault, deine Mutter kümmert sich nicht im Geringsten um dich und deine Schwester nur dann, wenn Flo eingreift. Du bist niemandem wichtig. Du bist das ekligste Wesen, das ich kenne. Du bist hässlich und nicht fähig, eine Beziehung aufrechtzuerhalten."

Was? Wie bitte? Er schüttelte fassungslos den Kopf und versuchte, zu verstehen, was er da las. Doch es war nicht alles. Da stand noch mehr.

„Alles an deinem Körper ist abstoßend, das weißt du ganz genau und dann vergraulst du noch die wenigen Menschen, die deinen Anblick ertragen und dich durch eine komische Fügung des Schicksals sogar mögen. Auch Lari hast du sträflich vernachlässigt, weil es dir zu anstrengend geworden ist. Jetzt bist du allein. So wie es vorher war. Du bist das Letzte. Alle, die dir das gesagt haben, haben letztlich Recht. Ich hoffe, du bist zufrieden! Geh unter! Friss, sauf, mach Dummheiten! Geh zugrunde! Die Welt ist ohne dich ohnehin besser dran! Besser, du verschwindest für immer! Sei einmal mutig und beende es! Anna."

Er schluckte und fragte sich, ob sie das ernst meinte. Sie wünschte sich, dass sie zugrunde ging? Sie war völlig überfordert gewesen, oder? Sie war komisch gewesen. Und beschämt. Sie würde keinen Scheiß machen, oder? Immerhin ging sie davon aus, dass die Welt ohne sie besser dran war. Sie würde nicht verschwinden und es beenden, oder?

Mein Name ist Anna!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt