21 - Wolkenbank

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Er wollte ihr helfen. Ihr erklären, dass alles gutwerden würde. Aber er wusste noch nicht, wie das klappen sollte. Er wusste nur, dass das Mädchen - nein, die junge Frau – die er über alles liebte, sich quälte, offenbar schon furchtbar lange und er ihr nur sagen konnte, dass er ihr beistand. Worte waren zu wenig. Denn sie war vollkommen durch.

„Ich bin so müde, Anna zu sein. Ich will verschwinden, Flo. Ich will nicht mehr in den Spiegel gucken und mich darin sehen. Ich bin es so leid, ich zu sein. Wieso hassen mich alle? Ich hasse mich auch. Du hast Unrecht. Ich bin nicht schön. Ich bin hässlich, das sagen mir alle...", flüsterte sie gequält und ihm wurde noch enger in der Brust.

„Nicht alle, Anna. Lari, Ma, Massimo, ich...", zählte er auf, aber sie schüttelte bedauernd den Kopf und weinte bitterliche Tränen, die ihm in der Seele schmerzten.

„Wenn dir von hundert Menschen, fünf sagen, du wärst ein herausragender Zeichner und der Rest erklärt, du bist beschissen, was sagt dir das, Ace? Dass mit dir nicht alles in Ordnung ist? Dass die, die zu dir halten vielleicht einen Knick in der Optik haben, dass du nicht richtig bist, oder?", fragte sie und er schluckte.

„Ich würde mich an die fünf halten, die zu mir stehen und auf den Rest scheißen, Anna", flüsterte er und sie sah ihn unter ihrem Tränenschleier an.

„Dann bist du ein Optimist, Florian. Ich bin einfach nur eine beschissene Realistin. Die sieht, dass sie nicht mal in der Welt der Erwachsenen bestehen kann. Ich hatte mich so gefreut, die pubertären Fieslinge hinter mir zu lassen und jetzt? Ich kann nicht mehr kämpfen. Ich will nicht mehr kämpfen...", hauchte sie und er merkte, wie Panik in ihm aufstieg.

„Was willst du damit sagen, Anna?", erkundigte er sich und sie sah ihn lange an.

„Dass du mich verlassen solltest. Ich bin ein Hemmschuh. Ich bin ein Nichts. Ich heule nur noch. Ich hab keine Kraft mehr. Ich will nur verschwinden. Und doch bin ich egoistisch und wünsche mir, dass du bleibst...", wisperte sie und er legte sich zu ihr und zog sie fest an seine Brust.

„Ich gehe nirgendwohin, Anna. Mein Platz hier. Du hast Unrecht. Ich sehe dich. Deine Farben. Die sind verdammt nochmal mehr, als dein Gewicht. Und wenn du das im Moment nicht glauben kannst oder willst, werde ich doppelt so hart glauben. Ich lasse nicht zu, dass du verschwindest. Denn du bist - und warst - nie ein Nichts", widersprach er ihr und spürte, wie der Widerstand gegen seine Umarmung erlahmte.

„Halt mich fest, Flo. Ich hab das Gefühl zu ertrinken...", sagte sie kaum hörbar und er hauchte ihr unzählige Küsse ins Haar.

Er zog sie noch näher zu sich und erwiderte: „Dann bin ich dein Rettungsring, Anna. Dein Anker. Wir bekommen das hin. Ich liebe dich."

„Ich liebe mich nicht. Ich hasse mich. Ich bin müde. Ich kann kaum mehr schlafen", gab sie völlig erschöpft zu und er nickte.

„Dann schlaf. Ich bin da, wenn du aufwachst. Jeden einzelnen Tag, Anna", entschied er und hörte noch, wie sie seufzte, ehe die Anspannung ihren Körper verließ und sie eingeschlafen war.

Er schmiegte sein Gesicht in ihre Locken und versuchte, sich zu beruhigen. Ihre Worte hatten ihm schwer zugesetzt. Alles, was sich seit seiner gestrigen Ankunft ereignet oder er entdeckt hatte, machte ihm zu schaffen. Er hatte sie nie so gesehen und das versetzte ihn in Panik. Natürlich war sie traurig gewesen und hatte mal geweint. Aber meist war das die Ausnahme, denn Anna verbarg ihre negativen Gefühle, so lange es ihr möglich war.

Dass sie das nicht weiter konnte, machte ihn fertig. Er musste mit jemandem reden. Einem, der mehr Erfahrung in solchen Dingen hatte, ging ihm auf. Er versicherte sich, dass seine Freundin tief schlief, und erhob sich behutsam, um sie auch nicht zu wecken. Dann schlich er aus dem Raum und als sein Blick ins chaotische Schlafzimmer fiel, schnürte sich seine Brust noch mehr zu. Er zog sein Handy aus der Gesäßtasche und wählte die Nummer der Person, die er nun brauchte.

Mein Name ist Anna!Where stories live. Discover now