15 - Seitenwind

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Aber das hätte er tun müssen. Anna war kein offener, zugänglicher Mensch. Sie hatte Anlaufschwierigkeiten und das hatte ihn nie gestört. Weil er wusste, wie er sie kriegte. Weil sie sich ihm gegenüber öffnete, spätestens wenn er nachfragte. Jetzt wallten schlagartig Schuldgefühle in ihm auf, während sie völlig panisch vor ihm saß und anscheinend versuchte, nicht zu weinen.

Plötzlich war es auch so logisch, dass sie ihm nie Vorwürfe gemacht hatte, weil er sie nicht mehr miteinbezogen hatte. Warum sie es stillschweigend akzeptiert hatte, dass er sich zurückzog. Weil sie Streit hasste und sich lieber in Begebenheiten fügte. Was ihr eine Menge Stress erspart hatte, als sie noch zu Hause gewohnt hatte.

‚Nicht Stress. Konfrontationen', verbesserte er sich und hörte, wie sie flüsterte: „Es tut mir leid, dass du das Gefühl hast, ich lasse dich im Stich oder allein oder so. Das ist nicht meine Absicht. Ich ... ich dachte, das wäre alles leichter. Mit der Arbeit. Die gefällt mir. Mir liegt es, Akten zu wälzen und Diktate zu schreiben, eines nach dem anderen. Aber die Menschen ... ich bin nicht normal. Ich warte immer auf den Hammer, den sie auspacken. Ich fühl mich am wohlsten da, wenn ich auf meinem Stuhl sitze und einfach arbeiten darf. Ich hab nicht geahnt ... ich dachte, ich käme besser klar. Ich brauch immer ein bisschen, mich auf die Kollegen einzustellen, und bis ich das geschafft hab, muss ich aufs Neue die Abteilung wechseln und dann bin ich wieder total überfordert. Weil ich neben der Herausforderung, mir die neuen Arbeitsanforderungen und Tätigkeiten anzueignen, auch erneut mit Fremden konfrontiert bin..."

„Wieso hast du mir das nicht erzählt?", fragte er tonlos und merkte, wie Mitleid in ihm aufwallte.

Er sah, wie ihr Blick zu ihm flog und sie mit den Schultern zuckte und wisperte: „Ich dachte, dann würdest du vielleicht mir zuliebe einen Rücktritt machen und die Schule sausen lassen. Sie hat gute Kritiken. Viele erfolgreiche Illustratoren haben da studiert. Ich will dir nicht im Weg stehen. Ich will für dich da sein, aber da hab ich wohl versagt..."

Jetzt traten doch Tränen in ihre Augen und er zog sie automatisch auf die Beine, um sie auf seinen Schoß zu ziehen, während sie hauchte: „Scheiße, ich wollte nicht flennen."

„Ist ok, Arielle. Du hast nicht versagt, ok? Ich muss mich entschuldigen. Ich hab zuerst die Lage falsch eingeschätzt und dann auch noch vergessen, dass dir der Kontakt mit Menschen nicht so leichtfällt wie mir. Dass du ein bisschen brauchst, die Dinge abzuschütteln, die dir in der Vergangenheit passiert sind. Weil du mir vertraust und im Grunde alles mitmachst. Darum war ich so vor den Kopf gestoßen. Doch dann verhalte ich mich zudem wie die Axt im Walde und mache dich blöde an, ohne dir die Chance zu geben, dich zu rechtfertigen. Jetzt ist alles so logisch. Wie sich das so entwickeln konnte. Ich hab nicht gecheckt, dass du zurückgesteckt hast, damit du mir den Freiraum einräumen konntest, den ich wirklich gebraucht hab. Der bezog sich nur auf die Wohnung, nicht auf dich. Ich hab nicht verstanden, warum du dich abrupt so darin eingeigelt hast, jetzt ist es klar. Es tut mir leid, Anna."

„Du trennst dich nicht von mir?", fragte sie kaum hörbar und er starrte sie verwirrt an, also fügte sie heftig schluchzend hinzu: „Du hast gesagt, wir müssen reden. Ich dachte ... weil wir ansonsten kaum noch ein Wort geredet haben, dass es das Ende ist. Dass ich nicht schnell genug war, dir zu erklären, dass es mir leidtut..."

„Nein, Anna. Ich wollte mich nicht von dir trennen, nur die Situation bereinigen", stellte er fest und sah förmlich, wie eine wahre Steinlawine von ihrer Brust rollte.

Er unterdrückte das fassungslose Kopfschütteln und zog sie näher zu sich. Das hatte er gründlich verkackt, dachte er, während Annas Kopf auf seine Schulter fiel und sie haltlos weinte. Sie hatte ihm keinen einzigen Vorwurf gemacht, bemerkte er plötzlich und vergrub sein Gesicht in ihrem Haar, um den kaum wahrnehmbaren Karamellduft davon einzuatmen.

Mein Name ist Anna!Where stories live. Discover now