29 - Windwärts

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Ihm fiel auf, dass sie automatisch dem Spiegel auswich, und seine Brust zog sich etwas zusammen. Es würde keine Dauerlösung sein, aber zumindest Druck herausnehmen, dachte er und zog ein Laken aus dem Schrank, um es über die Spiegeltür zu hängen. Dann drehte er sich zu ihr und griff nach ihrem Arm.

Er hörte, wie sie schluckte, als sie die Zwischenlösung erblickte und raunte: „Meinst du, das hilft erstmal?"

„Ich führ mich auf wie eine Irre, oder?", fragte sie und er hob ihr Kinn an, ehe er mit den Schultern zuckte.

Er seufzte und murmelte: „Ich denke, dass dir die Idioten in der Arbeit ziemlich zugesetzt haben. Mehr noch, als ich geahnt habe, das hat die letzte Nacht gezeigt. Doch das spornt mich nur zusätzlich an. Dir zu zeigen, dass ich dich anders sehe. Ich bin auch nicht allein damit. Da ist meine Ma, die dich wirklich liebt und Lari mitsamt ihren Freunden. Wir mögen nicht die Mehrheit sein, aber wir sind die, die zählen. Das musst du nur wieder glauben. Ich weiß, das geht nicht von heute auf morgen. Dafür wurden alte Wunden zu tief aufgerissen. Doch ich weiß, dass wir das schaffen. Wir alle. Mit dir. Weil in dieser Hülle, in der du steckst, einer der bezauberndsten Menschen lebt, den ich je kennengelernt hab."

Er sah, wie sie schluckte und drückte ihr einen Kuss auf die Lippen, ehe er erklärte: „Du bezeichnest es als Flo-Filter, ich nenn es Wahrheit. Anna, wenn wir miteinander schlafen, seh ich nicht deine Hülle. Nicht in erster Linie. Es ist mir egal, wie du aussiehst. Ob du gerade zugenommen hast, oder drei Kilo weniger hast, ist für mich nicht relevant. Ich liebe nicht die Zahl auf der Waage, sondern dich. Für mich bist du schön. Du bringst mein Herz weiterhin dazu, hart gegen meine Rippen zu pochen, wann immer du lächelst ... so wie jetzt. Mir stockt der Atem, falls du mich so ungläubig ansiehst wie gerade. Mir wird der Mund trocken, wenn ich dich küsse, weil dein Geschmack mich flutet. Willst du wissen, was mich noch mehr anmacht, abgesehen von deinem Äußeren?"

Sie nickte und schluckte, während er ihr über die Wange strich und murmelte: „Wie du riechst. Wie sich deine Haut an meiner anfühlt. Wie sie von einem leichtrosigen Schimmer überzogen wird, wenn ich dir Lust bereite. Wie du klingst dabei. Welche Emotionen ich in deinem Gesicht und den Augen ablesen kann, falls wir uns berühren. Wie du darauf reagierst. Wann immer wir miteinander schlafen, denke ich nicht an das, was andere sehen, ich erkenne so viel mehr."

Er sah Tränen in ihren Augen schimmern und setzte nach: „Das elektrisiert mich alles so viel mehr, als nur dein hübsches Gesicht, deine seidigen Locken, dein echt schöner Hintern und deine, für mich passende, Figur. Die mich nie gestört hat. Du bist, wie du bist. Damit war für mich der Käse gegessen. Das hat sich innerhalb der letzten knapp zwei Jahre nicht geändert, Anna. Egal, was du da drin gesehen hast, es deckt sich nicht mit meiner Wahrnehmung. Also, um auf deine Frage von gestern zu antworten, ob du beim Sex unattraktiv bist: Nein, bist du nicht. Warst du nie. Ok?"

„Ok", sagte sie und als er sie küsste, hauchte sie: „Kannst du es mir zeigen? Was ich mit dir mache? Bitte?"

„Ja, Anna, das kann ich", murmelte er und zog sie näher, um den Kuss zu vertiefen.

*

Er hörte ihr Seufzen, spürte ihr Nachgeben und merkte, wie sich einerseits Gier in ihm regte und er andererseits von neuer Zuversicht geflutet wurde. Sie würden das hinbekommen, irgendwie. Einen Schritt nach dem anderen würde er ihr zeigen, dass sie nicht das Abbild im Spiegel war. Dass sie mehr definierte als das. Jetzt musste sie zuerst wieder Luft holen können. Dann würde er ihr helfen, den Anfeindungen weiter die Stirn zu bieten.

Die Leidenschaft, die sie ihm entgegenbrachte, machte ihn sprachlos und ehrfürchtig zugleich. Diese Frau gehörte zu ihm. Unwiderruflich. Alle seine Sinne waren auf sie ausgerichtet und er spürte, wie sein Herz vor Freude aussetzte, als sie sich keuchend fallenließ, um nach den Sternen zu greifen. Er vergrub sein Gesicht in ihren Locken, fühlte ihren Körper erzittern und lauschte ihrem Höhenflug, während er die Augenlider schloss und sich dachte, dass er es nicht ertragen hätte, sie zu verlieren.

Mein Name ist Anna!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt