Prolog

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Der Regen würde herabfallen und sie verbrennen.

Briseis hielt die Hand ihrer Schwester festumklammert, während Anna sie immer weiter durch die Straßen zog. „Bitte, Anna, halten wir kurz an", schluchzte Briseis. „Ich kann nicht mehr –"

Doch Anna schüttelte entschieden den Kopf. Sie wagte nicht, sich umzudrehen. Das brauchte sie auch nicht. Sie konnte ihre Verfolger hören.

Sie hätten niemals zum Markt gehen dürfen. Ihr Vater hatte es ihnen ausdrücklich verboten, doch Anna hatte sich von ihrer kleinen Schwester überreden lassen. Wie hatte sie nur so dumm sein können? Bei dem Stand mit den Süßigkeiten war Anna aufgefallen, dass sie beobachtet wurden. Schwarzgekleidete Männer, die versuchten, mit der Masse zu verschwimmen. Dann kamen auch noch die Wolken und nun mussten die beiden nicht nur ihren Verfolgern entkommen, sondern auch dem Regen.

Sie rannten weiter durch die verlassenen Gassen der Stadt. Bedrohlich ragten die Wolkenkratzer zu ihren Seiten auf. Niemand war unterwegs – niemand außer zwei kleinen Mädchen und gut zehn Fremden.

„Anna, es regnet gleich!", rief Bri atemlos mit einem Blick in die Wolken hinauf. „Wir werden vergiftet, Anna!"

„Weiter", war das Einzige, was Anna herausbrachte. Ihr Herz klopfte schmerzhaft in ihrer Brust. Die Unbekannten hinter ihnen kamen näher und näher. Anna hatte nie in ihrem Leben solche Angst gehabt. Wenn diese Leute ihre Schwester in die Finger bekämen ...

Endlich bogen sie in ihre Straße ab. „Wir haben es gleich geschafft", keuchte Anna erleichtert.

Die Männer riefen etwas hinter ihnen. Sie würden sie gleich eingeholt haben.

Anna zog das Tempo an, Briseis stolperte, doch ihre Schwester konnte sie halten und weiterzerren. Sie gelangten zur Tür des Hochhauses, in dem ihre Wohnung lag. „Schnell, tipp den Code ein, Briseis!"

Ihre Schwester kam der Aufforderung umgehend nach und Anna sah sich atemlos nach ihren Verfolgern um. Ihr Herz setzte einen Schlag aus.

Ein Dutzend Menschen in schwarzen Kleidern, Gewehre und Pistolen im Anschlag, stürmten auf sie zu.

„Offen!"

Anna zögerte nicht länger und schob Briseis hinein, schlug die Türen zu und riss ihre Schwester die Treppen hinauf. Die Lungen der beiden Mädchen drohten zu zerspringen, während sie immer mehr Stufen erklommen. Die Aufzüge funktionierten schon seit Monaten nicht mehr. Als sie gerademal die Hälfte geschafft hatten, hörten sie, wie unten die Tür aufgebrochen wurde und schwere Schritte die Verfolgung aufnahmen.

„Schneller, schneller, schneller", drängte Anna.

Nach weiteren endlosen Stufen kamen sie endlich an ihre Wohnungstür. Diesmal gab Anna den Code ein, riss Briseis grob mit sich in die Wohnung und verriegelte die Tür – gerade, als sie den ersten Verfolger auf dem Absatz der Treppe erblickte.

Anna sah schockiert die verschlossene Tür an. Sie waren hier. Und Anna war ganz allein, niemand war bei ihr, der sie und Briseis würde beschützen können.

„Anna", wisperte Briseis angsterfüllt und ergriff ihre Hand. „Was tun wir jetzt?" Die Fünfjährige wirkte so klein, so zerbrechlich, wie sie in dem verwaisten Wohnzimmer stand und zitterte.

Anna schluckte schwer. „Unters Sofa", zischte sie.

„Wir können euch hören", sagte eine freundliche Frauenstimme vor der Tür und ein leises Klopfen erklang. „Habt keine Angst, Mädchen, macht bitte auf."

Anna kletterte zu ihrer kleinen Schwester unter die alte Couch. Briseis kniff die Augen zusammen und begann zu summen, so wie immer, wenn sie Angst hatte. „Pscht, sei still!" Anna nahm Briseis' Hand und drückte sie, bis die kleinen Finger weiß wurden.

16521 Band 1: Der Pirat, der Bär und der RegenOn viuen les histories. Descobreix ara