Bianka

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Charlie hatte Recht. Der Tunnel war – zu aller Überraschung – nicht eingestürzt. Nur wenige Tage nach der Besprechung, und unzähligen weiteren, wanderte die kleine Gruppe an Piratenjägern durch den schmalen Tunnel in Richtung Echo.

Es war dunkel, es war feucht – und Bri fühlte sich mehr als unwohl bei dem Gedanken, dass sich über ihnen tausende Tonnen Wasser befanden. Das war nicht das Einzige, was Bri bedrückte. Diese gespaltenen Gefühle, Henry endlich wiederzusehen, gegenüber dem, was sie zu tun gedachte, brachten sie beinahe um den Verstand.

Während der Wanderung durch den Tunnel nach Echo wurde nicht geredet. Überhaupt verhielten sich die Mitglieder der Operation Fitz–Becket höchstprofessionell – von einigen Streitereien zwischen Mia und Mona mal abgesehen. Bri war das Recht, so hatte sie Zeit zum Nachdenken.

Die letzten Tage in November waren die Hölle gewesen. Sie war auf Schritt und Tritt überwacht worden, damit sie nicht wieder ausreißen konnte. Menschen, die Bri gar nicht kannte, hatten ihr Erfolg für die Mission gewünscht. Mia hatte ihr immer und immer wieder den Plan eingeschärft, sodass Bri ihn jetzt vorwärts und rückwärts aufsagen konnte.

Nun, und dann war da noch Charlie.

Charlie war ein gesuchter Verbrecher. Kein Pirat oder Deserteur oder so etwas. Aber er hatte sich vor ein paar Wochen ins geheime Telefonnetz der obersten Piratenjäger gehackt – das bestgesichertste Netz ganz Septentrios. Es war wohl nichts Schlimmeres geschehen, doch Gott bewahre, wären Informationen an die Nordpiraten oder gar an die Südpiratenkoalition gelangt. Charlies Begründung war, begleitet von einem Schulterzucken: „Ich wollte nur mal sehen, ob ich es kann."

Durch seine Hilfe an Henry Fitz–Beckets Entführung versprachen die Piratenjäger ihm volle Begnadigung und den ersten Rang der Piratenjäger. Letzteres aber eher, weil sie von seinen technischen Fähigkeiten wirklich beeindruckt waren. Trotzdem, so richtig verzeihen konnte Charlie es Bri nicht, dass sie wegen ihres Namens gelogen hatte und ihn dann auch noch in diese ganze Sache verwickeln musste. Er ging neben Bri her und murmelte die ganze Zeit: „Heiliger Christophorus, heiliger Christophorus ...."

Es dauerte Ewigkeiten, immerhin lagen zwischen Echo und November gut dreißig Kilometer Luftlinie. Doch irgendwann waren sie nicht mehr unter dem Meer und an der Tunneldecke erschienen ab und zu Gitter, die etwas Abendlicht einließen. Über ihnen waren lediglich Felder und Wälder, wie ihnen Charlie versicherte. Wenige Kilometer weiter befand sich die Mauer, dahinter Echo.

Und so blieben die Piratenjäger irgendwann stehen und trafen letzte Vorbereitungen, um Bri loszuschicken.

Mit zittrigen Fingern rieb sie ihre Handgelenke. Bri wusste, dass es falsch war, doch sie freute sich so sehr, Henry wieder zu sehen. Ihn in die Arme zu schließen. Seinen Geruch einzuatmen –

„Was guckst du so dämlich?", fragte Mona irritiert neben ihr.

„Nichts."

Adrian klatschte in die Hände. „Briseis, Charlie. Noch Fragen?" Sie schüttelten die Köpfe, beiden war mehr als nur mulmig zumute. Der Präsident der Städte sah auf seine Armbanduhr. „Wie spät ist es auf euren Uhren?"

„Zwanzig Uhr Neunzehn", antwortete Bri mit zittriger Stimme, Charlie stimmte ihr zu.

Adrian nickte. „Passt." Er sah Bri ernst an. „Du hast einen Tag. Morgen um Punkt einundzwanzig Uhr musst du mit Henry unter dem Rathaus Echos sein. Verstanden?"

Briseis zögerte.

„Briseis, überleg dir lieber gut, ob du uns hintergehen willst", sagte der Präsident leise. „Wir werden dich finden. Und wenn nicht wir ... dann Henrys Vater. Der dich – wie Anna – langsam aber sicher zu Tode foltern wird. Also überleg es dir."

16521 Band 1: Der Pirat, der Bär und der RegenWhere stories live. Discover now