Das ganze Ausmaß

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„Ihr habt es mir versprochen!"

„Bri, bitte beruhige dich", sagte Helen behutsam und legte Bri eine Hand auf die Schulter.

Bri wich zurück. „Was hofft ihr zu erfahren? Er wird euch nichts sagen!" So hysterisch hatte sie ihre Stimme noch nie gehört. Sie stand mit ihren Schwestern in dem großen Saal, der zu dieser späten Stunde leer war.

„Du musst ruhig bleiben." Helen war sanft wie eh und je, während Mia die Arme vor der Brust verschränkt hatte und düster ins Leere starrte. „Bri, es ist ..."

„Wie konntet ihr das zulassen?", zischte Bri verletzt.

Helen nickte langsam. „Wir verstehen, dass du nicht erfreut bist –"

„Helen." Mia schloss die Augen. „Halt den Mund. Im Ernst. Halt einfach den Mund."

Die Piratenjägerin hob das Kinn an. „Was willst du ihr denn sagen?"

Mia zuckte die Schultern. „Nichts. Wir können nichts sagen."

Bri sah ihre Schwester stutzig an. „Was?"

Mia seufzte. „Du hättest uns sonst nicht geholfen. Wir mussten versprechen, ihm nichts anzutun." Bri ballte die Hände zu Fäusten, während es in ihrem Inneren brodelte. „Aber du musst uns glauben, Bri", sagte Mia und suchte ihren Blick. „Helen und ich haben alles getan, um sie davon abzuhalten, Henry zu –"

„Ich will ihn sehen", sagte Bri mit fester Stimme. Sie sah auf. „Ich will Henry sehen."

Helen sah sie verzweifelt an. „Jaa ...", sagte Mia langgezogen. „Hast du dir von Teddy 'ne selbstgedrehte Zigarette gegönnt, oder was?"

„Was?", fragte Bri irritiert. „Nein! Ich – ich will Henry sehen, um mich zu vergewissern, dass es ihm gut geht."

„Das ist nicht möglich", sagte Helen ruhig.

Bri ging wütend einen Schritt vor. „Natürlich ist das möglich. Ihr seid im Rat der Piratenjäger, verdammt nochmal, ihr –"

„Helen hat Recht, Bri." Mia rieb sich die Stirn. „Niemand darf zu ihm. Niemand. Außerdem stimmt es. Er redet nicht. Henry sagt kein einziges Wort, was auch immer sie versuchen ..."

Ein Schauer lief Bris Rücken hinunter. „Oh Gott", hauchte sie und legte eine Hand an ihre Stirn. „Oh Gott."

„Es tut mir so leid, Bri", sagte Helen und legte ihrer Schwester eine Hand auf den Rücken.

Mia schnaubte. „Im Ernst, Helen?"

Die Tür ging auf und Tina Bell sah hinein. „Helen, Mia. Schulz ist da. Raum Fünfzehn."

Bri sah von Bell zu ihren Schwestern und zurück. „Samuel?"

„Tu nichts Unüberlegtes und warte hier", sagte Mia an der Tür. „Verstanden?"

Sie folgte ihnen auf den Flur. „Kann ich mitkommen?" Vielleicht würde es helfen, mit dem Mann zu reden, dessen Familie sie durch den Verrat an Henry gerettet hatte.

Mia seufzte. „Nachher."

„Jetzt."

„Jaja." Mia blieb stehen. „Moment, in welchem Raum war er nochmal?", fragte sie Helen.

Diese schloss die Augen. „Mist."

Bri sah ihre Schwestern an. Die gute alte Dyskalkulie der Familie Bandowski, die ihnen einen normalen Umgang mit Zahlen verbot. Zu Bris Glück war diese Sache an ihr vorbeigegangen. „Siebenundzwanzig. Er ist in Raum Siebenundzwanzig", sagte sie und rannte weg in die andere Richtung.

Als sie an der Tür des Raumes Fünfzehn ankam, sah Bri sich kurz um und ging dann hinein. Sie schloss die Tür. Ihr Herz macht einen Sprung, als sie sah, wer dort saß.

„Oliver", flüsterte sie und ging zu dem Jungen, der mit klammem Blick ins Nichts starrte. „Oli." Sie kniete sich vor seinen Stuhl und nahm sein Gesicht in ihre Hände. Er hatte stark abgenommen. Sie hatten ihm in dem Arbeitslager den Kopf rasiert. Bri brauchte ihre gesamte Willenskraft, um nicht ihre Hände zu Fäusten zu ballen. „Hey, kleiner Draufgänger, geht's dir gut?"

Er antwortete nicht. Er sah sie nicht einmal an.

„Oli!", flüsterte Bri.

„Lass gut sein", sagte jemand vom Fenster aus. „Er hat nicht mehr gesprochen, seit er zurück ist."

Samuel Schulz trat einen Schritt vor. Bris Herz setzte einen Schlag aus.

Dies war nicht der Mann, den sie an ihrem letzten Tag in Foxtrot gesehen hatte. Samuel hatte tiefe Ringe unter den Augen, er stand gebückt neben dem Fenster, jegliches Lächeln war aus seinen Augen gewichen. Seine Haare fielen ihm strähnig über die Schultern. Samuel Schulz sah nicht aus wie ein oberster Offizier der Stadt Foxtrot, er sah aus wie eine wandelnde Leiche.

„Samuel", sagte Bri leise und ging zu ihm. „Es ist so schön, dich ..."

Wortlos nahm Samuel die Tochter seines besten Freundes in die Arme und drückte sie fest an sich. „Es tut mir so leid, Briseis", sagte er mit heiserer Stimme.

Bri sah ihn an. „Was meinst du?"

Er sog schmerzhaft die Luft ein. „Dass unsere Lüge nicht gut genug war."

Ihre Miene verhärtete sich. Annas Lüge war lückenlos perfekt gewesen. Es wäre nie aufgeflogen, hätten Helen und Mia einfach ihren Mund gehalten. An der Qualität der Lüge hatte es nicht gelegen.

Bri riss sich zusammen und setzte ein trauriges Lächeln auf. „Ist schon okay. Wir können es jetzt nicht mehr ändern." Wie sehr wünschte sie sich, dass es anders wäre.

„Du hast ihnen Henry Fitz–Becket ausgeliefert", brach Samuel das Thema an. „Aber ... er hat dir aus Foxtrot rausgeholfen, oder?" Bri hob langsam den Blick. „Er hat dir das Leben gerettet und du ... du hast ihn verraten."

Bri schwieg.

„Wieso hast du das getan, Bri?", fragte Samuel leise. „Ich weiß, wer er ist, aber ... gerade du müsstest doch wissen, dass man Kinder nicht für die Sünden ihrer Eltern zur Rechenschaft ziehen darf. Warum?"

Bri zog die Augenbrauen zusammen. „Warum?", wiederholte sie. „Damit die Wasserwerke und das Arbeitslager nicht zerstört werden. Ich wollte –" Als sie Samuels Gesicht sah, stockte sie. „Sie haben mir versprochen, dass ..." Samuel zog die Mundwinkel nach unten. „Wo ist Maria?", fragte Bri und sah sich um, als erwartete sie, jeden Moment Samuels Familie in einer Ecke zu entdecken. Doch da saß nur der abwesende Oliver. „Wo sind Tom und Sophie?" Ihre Stimme zitterte. „Samuel, was –"

Der Piratenjäger ging zur Tür. Er legte eine Hand an den Türgriff und lehnte seinen Kopf gegen das Metall. Und plötzlich lachte er. Er lachte ein kehliges, bitteres Lachen. „Sie haben dich belogen, Briseis", sagte er mit ausdrucksloser, leiser Stimme. „Die Foxtroter Wasserwerke – mitsamt allen Insassen – wurden vier Tage vor der Entführung von Henry Fitz–Becket zerstört." Samuel sah Bri an. „Sie haben dich benutzt, um an Henry ranzukommen."

16521 Band 1: Der Pirat, der Bär und der RegenWhere stories live. Discover now