Der Whiskey

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Eine Sekunde war alles still im Taumelnden Loras. Dann passierte alles ganz schnell: Die Piraten und Zwischenstädter mussten ihren Alkohol loswerden.

Da gab es die unterschiedlichsten Methoden: Die einen versteckten die Flaschen unter ihren Bänken, Röcken und Taschen. Die kleineren Flaschen fanden Unterschlupf in Stiefeln und Unterwäsche, ein Flachmann sogar unter dem Hut eines Zwischenstädters. Doch die beliebteste Methode war ohne Zweifel, seinen Becher in einem Zug leerzutrinken und Marissa zuzuwerfen, die alles in einem kleinen Verschlag im Boden verschwinden ließ.

Anna verfolgte diese perfekte Choreographie mit offenem Mund. Sie stand auf. „Los, verschwinden wir, bevor –"

Henry schüttelte den Kopf. „Sie werden das Gebäude hier längst umstellt haben und uns sehen." Er dachte kurz nach. „Aber mit etwas Glück, werden sie uns nicht erkennen." Henry rief Imo mit einem Fingerschnipsen von der Bank und zeigte auf die Hintertür.

Missmutig schwankte das Tier über die Holzdielen, stieß die Tür auf und verschwand. „Komm mit", sagte Henry und zog Anna zur Hochzeitsgesellschaft.

Ohne zu fragen griffen sie sich auf dem Weg zwei Stühle und setzten sich genau vor das frischgebackene Ehepaar. „Cousin Oskar!", sagte Henry mit einem Strahlen, während der Bräutigam ihn und Anna verwirrt ansah.

„Was? Meine Eltern waren beide Einzelkinder, ich habe keinen –"

Seine Frau schien schneller zu verstehen, was gerade passierte. Sie trat ihrem Mann unterm Tisch gegens Bein, genau in dem Moment, als die Tür erneut zum Wirtshaus aufging.

Anna holte tief Luft und versuchte, mit den Menschen um sich herum zu verschmelzen.

Nur ein einziger Mann betrat da das Gebäude. Es handelte sich um einen älteren Piratenjäger, ganz in schwarz gekleidet. Anna war erleichtert, denn sie kannte ihn nicht. Mit etwas Glück würde auch er sie nicht erkennen.

Mit stechenden Augen schweifte der Blick des Piratenjägers durch die Reihen von Zwischenstädtern und Piraten, die ihre Gespräche wiederaufnahmen und versuchten, sich ganz normal zu verhalten. Obwohl alle Gäste so geschäftig taten, hatte jeder den Mann im Blick.

Der Bräutigam räusperte sich. „Wie ... geht's dir, Cousin?", fragte er und lächelte Henry an. „Wie schön, dass du zu meiner Hochzeit mit Emma kommen konntest."

Anna atmete erleichtert auf. Sie mussten das Spiel nur spielen, bis der Piratenjäger wieder verschwand, und schon wären sie aus dem Schneider. „Dein Kleid ist wundervoll!", strahlte sie die Braut an, obwohl es der hässlichste Fetzen Stoff war, den sie sich hätte ausmalen können.

„Danke, meine Mutter hat es genäht ..."

Aus den Augenwinkeln sah Anna, wie der Piratenjäger langsam zur Theke schlenderte. Die alte Marissa lächelte ihn an. „Guten Abend, Sir. Wie kann ich behilflich sein?"

Der Mann blieb direkt vor der Bar stehen und musterte die Wirtin. „Guten Abend." Er nickte und sah sich wieder in der Schenke um. „Gehört die Bruchbude hier dir?"

Marissas Lächeln wurde etwas angespannter. „Ja, dieses Gasthaus gehört mir, Sir. Möchten Sie was essen oder trinken?"

Der Piratenjäger schüttelte den Kopf. „Ist hier heute wer angekommen?"

Anna sank noch weiter in ihrem Stuhl zusammen, während Henry sich mit Oskar und Emma unterhielt.

„Was meinen Sie mit angekommen?", fragte Marissa. „Das ist ein Hafen, hier kommen täglich Schiffe und –"

„Wir suchen jemanden."

„Wen?" Marissa seufzte. „Sir, heute war ein recht langweiliger Tag. Bis auf die Hochzeit meiner Großnichte ist wenig passiert."

16521 Band 1: Der Pirat, der Bär und der RegenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt