Henrys Frage

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Henry lächelte sie an und hielt ihre Hand fest. „Du glaubst gar nicht, wie glücklich ich bin, dich hierzuhaben."

Ja, mach es noch schlimmer, du Idiot. „Gehen wir bitte einfach", murmelte Bri und wich seinem Blick aus.

Er lachte und ging auf den Flur. Bri drehte sich zu Imo um, der glücklich vor ihr auf und ab sprang. Aus ihrer Tasche zog sie ein Stück Fleisch, in dem Schlaftabletten eingewickelt waren, und warf es ihm zu. Dankbar stürzte er sich darauf und verputzte es. Bri legte eine rote Armbinde mit einem N auf Henrys Bett und verließ ebenfalls das Zimmer. Sie schloss die Tür, sodass Imo zurückblieb.

Und somit war Henrys letzter Schutz ausgeschaltet.

„Sollten wir Imo nicht –", begann Henry.

„Wir müssen durch ein Gitter klettern, das ist nichts für übergewichtige Bären", lächelte Bri und zog Henry zur Treppe.

„Da hat es aber jemand eilig mit mir allein zu sein", sagte er.

Bri lachte unsicher. „Was?", fragte sie.

Henry lachte und legte einen Arm um ihre Schultern. „Niemand kann dir das verübeln."

Sie nahm seine Hand, die von ihrer Schulter baumelte. „Niemand", versicherte sie, während sie ins Erdgeschoss gingen.

„Ganz genau."

Als sie ans Ende der Treppe gelangten, kam ihnen Bianka Fitz–Becket entgegen. Bri biss die Zähne zusammen und ließ Henrys Hand los. Warum nur?, dachte sie still bei sich.

„Na, ihr beiden?", lächelte sie. „Wo soll es noch hingehen?"

„Henry will mir ein bisschen die Stadt zeigen", antwortete Bri schnell, damit Henry nichts von den Kellergewölben erzählen konnte. Wenn den Piraten in wenigen Stunden auffallen sollte, dass Henry verschwunden war, sollten sie nicht zu allererst dort nachschauen.

Bianka verschränkte die Arme vor der Brust und sah die beiden forschend an. „Ihr seid wirklich süß zusammen, wisst ihr das eigentlich?"

Henry lachte. Bri schüttelte den Kopf und hob die Hände. „Immer noch, wir sind wirklich nicht –"

„Vergiss es, Sophie, das glaubt sie uns ja doch nicht", sagte Henry und zog Bri weiter.

Bianka lächelte. „Ich für meinen Teil würde mich einfach freuen, wenn du am Ende nicht Biff heiratest."

„Findest du das nicht ein bisschen homophob, liebe Mutter?"

„Das hat nichts damit zu tun. Ich glaube einfach, dass Biff es besser treffen kann."

Bri lachte und Henry öffnete schockiert den Mund. „Das tat ziemlich weh."

Bianka lächelte und machte sich auf den Weg die Treppe hoch. „Viel Spaß, ihr beiden."

Bri sah Henry an. „Wow. Das war unangenehm."

Henry schüttelte den Kopf. „Nicht mal annährend. Sie hat ja noch nicht einmal versucht, dir einen Vortrag über Verhütung zu halten, weil Henry ja sofort abschaltet, wenn man ernsthaft über –"

„Oh mein Gott, bitte halt endlich den Mund, Henry."

Ohne weitere Zwischenfälle landeten sie in den Kellergewölben unter dem Rathaus. „Wow", staunte Henry und drehte sich um. Bri sah unauffällig auf ihre Uhr. Zwanzig Uhr Zweiundfünfzig. Sie hatten noch acht Minuten. Acht Minuten, in denen sie Freunde waren und einander vertrauten. „Ich war noch nie hier unten", sagte Henry fasziniert. „Wir dachten immer, das wäre die Kanalisation. Wie hast du das gefunden?"

Bri zuckte die Schultern. „Bin reingefallen", sagte sie wahrheitsgemäß.

Henry nickte. „Das klingt einleuchtend."

„Danke."

„Lass uns weiter gehen", sagte er neugierig und drehte sich zu den weiten Tunneln um.

Bri schüttelte mit klopfendem Herzen den Kopf. „Nein, wir – lass uns doch hier bleiben. Nicht, dass wir uns verlaufen oder ..."

Sie sahen sich an.

Henry kam langsam zu ihr. Bri schluckte schwer. „Henry?"

„Hm?", fragte er und strich ihr eine Locke aus der Stirn.

„Wären wir auch Freunde, wenn Nick nicht wäre?"

Jetzt war es zu spät. Henry war hier, er war so gut wie entführt.

Henry lachte traurig und legte den Kopf schräg. Sein Gesicht war nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt. „Ich glaube nicht. Ein Wunder, dass wir überhaupt Freunde sind. Immerhin hast du versucht, mich zu verprügeln, nachdem du Imo erschießen wolltest."

Bri lächelte bei der Erinnerung daran. „Gestern hast du ein Messer nach mir geworfen. Ich denke, wir sind quitt -"

Ein Rascheln in einem der Gänge ließ sie verstummen und Henry drehte wachsam den Kopf. Im Gegensatz zu Bri wusste er nicht, was es damit auf sich hatte. „Was war das?", fragte er mit gerunzelter Stirn.

„Bestimmt nur Ratten", sagte sie.

„Nein, es klang wie –"

Bri legte eine Hand an seine Wange und drehte seinen Kopf zu sich herum.

Und ohne darüber nachzudenken küsste sie ihn.

Eine Sekunde später wussten die beiden nicht mehr, wo oder weshalb sie hier waren. Die Gedanken kreisten nur noch umeinander. Henry zog sie näher zu sich, während Bri ihre Hände in seinen Haaren vergrub. Zu Anfang waren beide überrascht. Doch schon bald vertiefte sich der Kuss und alle Sorgen, alle Angst und Verzweiflung waren für einen Moment vergessen.

Bri wollte aus den Kellergewölben verschwinden, wollte wieder hochgehen in sein Zimmer, sich auf eine der Matratzen sinken lassen und mit Henry bis ans Ende ihrer Tage dortbleiben. Die Vorstellung von den Dingen, die sie mit Henry tun wollte, ließ alles in ihrem Inneren vor Verzweiflung explodieren.

Als sie sich voneinander lösten, sah Henry ihr überrascht in die Augen, bis sich ein leichtes Lächeln auf seinen Lippen ausbreitete. Nicht das überhebliche Grinsen, welches sie sonst von ihm gewohnt war, sondern ein leises, kleines Lächeln.

„Brisi?", fragte er leise.

„Hm?"

Er fuhr mit seinem Daumen über ihre Lippe. „Darf ich dir eine Frage stellen?"

Mit einem Schlag wurde Bri seltsam klar im Kopf. Sie nahm seine Hände von ihrem Gesicht und atmete tief ein. „Lauf."

Henry lachte. „Warum?"

Bri trat einen Schritt vor und sah ihn durchdringend an. „Ich habe einen Fehler gemacht, Henry. Ich habe etwas Furchtbares getan, du musst hier weg!"

Er schüttelte den Kopf. „Brisi, wovon redest du da?"

„Henry, verschwinde! Du musst gehen, bitte –"

Es war zu spät. Eine Pistole erschien an Henrys Schläfe. Sein Blick wanderte von Adrian Zimmerman zurück zu Bri, während er versuchte, das alles in einen Zusammenhang zu bringen.

Als sich hinter ihm die anderen Piratenjäger aus den Schatten lösten, verstand er es.

Henry verstand alles.

16521 Band 1: Der Pirat, der Bär und der RegenWhere stories live. Discover now