Tom

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Der Knall war ohrenbetäubend. Ein schrilles Kreischen machte sich in Annas Kopf breit und wurde lauter, bis sie glaubte, er werde platzen müssen.

Viel zu langsam kamen ihr ihre Bewegungen vor, als sie sich wieder aufrichtete. Das halbe Rathaus war einem riesigen Feuerball gewichen, der größer und größer wurde. Die Flagge der Städte brannte in eben diesem Augenblick nieder und fiel zu Boden, wo verstümmelte Menschen lagen, die aus vollem Halse schrien – überall lagen Steine, Schrott und tote Körper.

„Samuel", hauchte Anna, was in ihren Ohren ungewöhnlich laut klang.

„Oh Gott!", kreischte eine Frau hinter Anna. „Oh – oh Gott!"

„Ein Anschlag!", schrie jemand. „Piraten! Die Piraten haben es schon wieder getan!"

Und damit brach endgültig der Tumult los. Panisch rannten die Menschen umher, achteten auf Nichts und Niemanden. Anna wurde mit dem Pulk gerissen, bevor sie wusste, was geschah. „Anna!", kreischte Sophie irgendwo.

Anna rang in der schreienden Menge nach Luft, sie streckte die Arme aus, in der Hoffnung, irgendwo Sophie zu fassen zu kriegen. Alle versuchten, so weit weg vom Rathaus zu gelangen wie nur irgend möglich.

„Wir treffen uns Zuhause!", konnte Anna gerade noch rufen, bevor Tom und Sophie in der Menge verschwanden.

Es war unmöglich, in eine bestimmte Richtung zu gehen. Alle schubsten und traten wild um sich. Anna versuchte mit aller Kraft, die Leute von sich wegzustoßen, doch es waren so viele in den engen Gassen unterwegs, dass ein Vorwärtskommen kaum möglich war. Kinder schrien nach ihren Eltern; Piratenjäger verschwanden in der Menge, ohne etwas ausrichten zu können; ein Mann fiel, doch niemand half ihm auf, die Menge strömte einfach weiter.

Von der euphorischen Stimmung des Morgens war nichts mehr zu spüren. Panik und Ungewissheit regierten die Straßen Foxtrots. An dem heiligsten aller Festtage hatte es jemand gewagt, das Rathaus in die Luft zu sprengen. Das zweite Mal innerhalb weniger Tage war Foxtrot angegriffen worden.

Nach viel zu langer Zeit verlief sich die hysterische Menge endlich und Anna sprintete zur Wohnung der Schulz'. Über ihr kreisten Hubschrauber, Sanitäter hasteten ihr entgegen, überall war Lärm, überall hörte man Schreie.

Schweratmend erreichte Anna das Haus. Sie hechtete in den Fahrstuhl und fuhr in den sechsundsiebzigsten Stock. Sie krümmte sich zusammen. Jeder Knochen schmerzte.

In der Stille wurden Annas Gedanken langsam klarer. Wo waren Samuel und Maria während der Explosion gewesen? Laut Protokoll hätte Samuel mit den anderen Piratenjägern ersten Ranges auf dem Podium stehen müssen, doch Anna hatte ihn dort nicht gesehen. Und Maria? Hatten Tom und Sophie es bis nach Hause geschafft?

Anna holte keuchend Luft und legte eine Hand an die Stirn.

Die Fahrstuhltüren öffneten sich. Anna rannte den Flur entlang zu der Wohnungstür, tippte den Code ein und stürmte hinein. Sie wusste sofort, dass sie allein war. Die Wohnung sah genauso aus, wie sie sie heute Morgen verlassen hatten. Schmutziges Geschirr stapelte sich in der Küche, erkaltete Milch stand auf dem Tisch, Sophies Schlafanzug lag zusammengeknüllt auf dem Wohnzimmerboden.

Anna durchquerte das Wohnzimmer und sah aus dem Fenster. Allein die Zerstörung dieses einen Gebäudes ließ Foxtrot wie eine ganz andere Stadt erscheinen. Da, wo einst das Rathaus stand, stieg eine Rauchwolke in den Himmel empor. Hubschrauber kreisten über der Stadt, vermutlich auf der Suche nach dem Attentäter.

Anna presste eine Hand vor ihren Mund und schüttelte den Kopf. Sie ermahnte sich, ruhig zu bleiben und auf die anderen zu warten. Also setzte sie sich auf einen Sessel. Und wartete. Lange. Anna blieb auf ihrem Sessel sitzen, die Knie angezogen, den Blick aufs Fenster gerichtet. Gerade, als sie beschloss, die anderen zu suchen, ging endlich die Wohnungstür auf. Mehrere Leute betraten die Wohnung. Anna sprang erleichtert auf.

16521 Band 1: Der Pirat, der Bär und der RegenKde žijí příběhy. Začni objevovat