Charlies Mathematik

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Einige Kilometer vor Echo trieb die Ronja in der Bucht. Henry und seine zum Teil adoptierten Geschwister hatten das Segelschiff zum zwölften Geburtstag bekommen. Das dunkle Holz bildete einen wunderschönen Kontrast zu den hellen Segeln, die hoch über ihnen in den Himmel ragten. Ruhig wiegte die Ronja im Wind, während Echo an der Küste in der Dämmerung aufthronte.

Vor zwölf Jahren hatten die Piraten den Jägern die Stadt aus den Händen gerissen und all ihre Leute hierhergebracht. Es war der perfekte Ort, um sein Volk in Sicherheit zu wissen. Eine große Mauer umgab die riesige Stadt, wie auch alle anderen Städte, und auch durch die Lage in der Bucht hatten feindliche Flotten kaum Chancen auf einen erfolgreichen Angriff.

Und tatsächlich war Echo die schönste Stadt, die Briseis bisher gesehen hatte. Sie lag direkt am Meer, die Häuser spiegelten sich in dem grauen Wasser, auf dem Schiffe und Boote trieben. In den Straßen herrschte stets reger Verkehr. Während in Uniform und Foxtrot die meisten Häuser hässliche graue Betonmonster waren, bestanden sie in Echo aus Sandstein und Strohdächern. Wäscheleinen waren zwischen den Häusern gespannt, welche die kleinen Gassen säumten. Es war einfach wunderschön.

Briseis saß an der Reling. Sie spürte die salzige Seeluft auf ihrer Haut und den Wind, der durch ihre Haare fuhr. Sie fühlte sich verboten gut, was vermutlich auch daran lag, dass die Seekrankheit Bri heute verschonte.

Als sie die Ronja gemeinsam aus dem Hafen gesegelt hatten, hatten sich sogar für einen kurzen Moment die Wolken an einer Stelle gelichtet und die Bürger Echos konnten blauen Himmel und ein Stück Sonne sehen. Bri konnte sich nicht erinnern, wann das das letzte Mal passiert war.

Gestern hatte sie bestimmt sechs Schüsseln von Echos berühmtberüchtigter Gumbo gegessen, stundenlang mit Henry auf dem Balkon gesessen und bis tief in die Nacht geredet. Irgendwann hatte Henry Geige gespielt, bis Bri vollkommen erschöpft neben Imo eingeschlafen war.

Tausendmal hätte es die Gelegenheit gegeben, Henry von ihrem Aufenthalt in November zu erzählen. Übrigens, unter unseren Füßen lauern eine Handvoll Piratenjäger, die darauf warten, dass ich dich zu ihnen bringe. Ja, finde ich auch nicht so toll, aber Piratenjäger halt, was soll man machen ...

Bri sagte nichts. Natürlich nicht. Warum? Weil sie ein verachtenswertes Miststück war.

Stattdessen strich sie die letzten Tage aus ihren Gedanken und versuchte, das Hier und Jetzt mit Henry zu genießen. Am Mittag zuvor waren sie zu einem Essen mit Bianka, Rui und Fred gegangen.

Und einer weiteren Person.

Henry schob Bri gerade in den großen Raum, als sie einen sehr, sehr alten Mann entdeckte, der auf einem Schaukelstuhl vor dem atemberaubenden Ausblick auf Echo saß.

„Wenn kein Land in Sicht kommt, hast du ein Problem, lieber Lucius", sagte der Mann. Bri sah sich um, doch außer ihnen war niemand sonst in dem Raum. Mit wem sprach er? „Aber ganz wichtig: Egal, wie durstig du bist. Seewasser ist nicht ..."

Der Mann sah auf und musterte Bri, die wie angewurzelt stehen blieb. Doch als der alte Mann sprach, sprach er nicht mit Bri.

„Levi, bring diese Städter-Schlampe aus meinem Haus!"

„Was zur Hölle –", fuhr Bri auf, doch Henry umschloss ihren Unterarm.

„Ich bin Henry, Opa. Nicht Levi", korrigierte Henry mit ausdruckslosem Gesicht.

Bri sah zwischen den beiden hinterher. „Dein ...? Ist das ...? Das ist dein Großvater?" Sie sah wieder den alten Mann an, der erneut begann, zerstreut vor sich hinzumurmeln. „Loras Fitz–Becket", wisperte sie.

Er war nicht nur Henrys Großvater väterlicherseits. Nein, er war es auch gewesen, der die Zwischenstädter vor über fünfzig Jahren auf die Meere hinausgeführt und sie zu dem gemacht hatte, was sie heute waren – Piraten. Dieser alte, verwirrte Mann war der Begründer der Piraterie Septentrios.

16521 Band 1: Der Pirat, der Bär und der RegenWhere stories live. Discover now