Das Mädchen, das die Zahlen kannte

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Briseis Bandowski und Henry Fitz–Becket ritten bis tief in die Nacht hinein. Bald schon brauste das Meer neben ihnen auf. Doch das Pferd wurde müde, also hielten sie ohne ein Wort zu wechseln in den Dünen an. Das Mädchen stieg vom Pferd, ging ein paar Meter und starrte in der Dunkelheit aufs Meer hinaus.

Henry stieg ebenfalls ab, doch blieb neben dem Pferd stehen.

„Warum sagst du nichts?", fragte Briseis nach mehreren Minuten. Es war eine ruhige Nacht, nur ein leiser Wind wehte durch ihre Haare.

„Was soll ich denn sagen?", fragte Henry ausdruckslos.

„Ich ..." Briseis schloss die Augen. Sie wusste nicht, was sie sagen oder fühlen sollte. „Sie haben mich verraten", brach es aus ihr heraus. „Meine Schwestern, sie ... sie haben mich verraten."

Henry schüttelte den Kopf. „Also ist es wahr?"

Briseis' Unterlippe begann zu zittern. Sie drehte sich zu ihm um. „Henry –"

„Brist du Briseis?", unterbrach er sie leise.

Sie konnte nur nicken. Es auszusprechen, was all die Jahre ein Geheimnis war, brachte sie nicht übers Herz.

Henry starrte sie fassungslos an.

Briseis legte eine Hand an ihre Stirn. „Ich muss Selma und Fritz und Oliver – ich ... Sie bringen sie zu den Wasserwerken, das dürfen sie nicht!" Ihr Herz drohte zu zerspringen.

„Kennst du die Zahlen?", fragte Henry. Seine Miene war vollkommen ausdruckslos.

Briseis sah ihn an. „Was?"

„Kennst du die Zahlen?"

Sie schluckte schwer und wich einen Schritt zurück. „Du verstehst das nicht –"

„Kennst du sie?", fragte Henry bestimmt.

Es war zu viel. Briseis ging in die Knie, schlang die Arme um ihren Körper und schloss panisch die Augen. Ihr Atem beschleunigte sich. Dann legte sich eine Hand auf ihre Schulter.

Briseis umklammerte sie. „Lass mich nicht allein", bat sie kaum hörbar.

Henry kniete sich zu ihr in den Sand, zog sie an sich und legte sein Kinn auf ihren Kopf. „Werd' ich nicht."

„Sie haben mich verraten, Henry", murmelte sie in seine Jacke. „Meine eigene Familie. Jetzt werden alle die Zahlen wissen wollen, aber – aber ..." Sie sog scharf die Luft ein. „Sie haben meine Schwester zu Tode gefoltert. Was werden sie mir dann antun?"

„Steh auf, Briseis."

Henry Fitz–Becket war der erste Mensch, der Briseis Bandowski seit langer Zeit wieder bei ihrem richtigen Namen nannte. Er half ihr hoch und fuhr ihr mit den Daumen über die Wangen. Er sah sie eindringlich an. „Ich werde nicht zulassen, dass dir irgendjemand etwas antut, hörst du?" Er strich ihr eine Locke hinters Ohr. „Ich schwöre es. Lass uns gehen. Ich weiß, wo wir etwas zu essen kriegen." Er nickte. „Ich denke ... wir sollten was essen. Und reden."


Santiano war eine Ansammlung von ein paar Dutzend Holzhütten. Das Piratendorf war in ganz Septentrio für seine Musiker bekannt – sogar Briseis in Foxtrot hatte schon von den extravaganten Konzerten gehört. Das Dorf sowie die Bühne lagen in einer Bucht, die nur durch einen schmalen Gang durch meterhohe Felsen zu erreichen war. Einer der Gründe, weshalb die Piratenjäger Santiano bisher nicht hatten finden können, um es dem Erdboden gleichzumachen.

Sie verkauften das Pferd – da sowohl Henry und Briseis fürs Erste genug vom Reiten hatten – und besorgten sich an einem Stand Fisch und zu Briseis' Entsetzen eine Flasche mit irgendwelchem Alkohol.

16521 Band 1: Der Pirat, der Bär und der RegenWhere stories live. Discover now