Der letzte Freund

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Zwölf Jahre später.


Anna Bandowski sah zu den Wolken hinauf, während sie inständig hoffte, es würde regnen. Es war ein großer Tag für die Stadt Foxtrot. Ein kleiner, giftiger Regenschauer würde die Menschen zurück in ihre Häuser zwingen, die Hinrichtung würde nicht stattfinden können. Nick Sloan würde für ein paar weitere Stunden am Leben bleiben.

Während sie dort so verloren am Fenster stand, bemerkte sie nicht zum ersten Mal, dass Foxtrot keineswegs zu den Schönheiten der Sechsundzwanzig Städte zählte. Ein Meer aus grauen Wolkenkratzern bedeckte den Boden, die durchzogen wurden von schmalen Gassen, in denen sich Berge von Müll angehäuft hatten. Hinter der Mauer, die ganz Foxtrot umschloss, schossen die Bäume der Zwischenstädtischen Gebiete in die Höhe; die schwarzen Baumwipfel verschwanden in den giftigen Wolken.

Anna hatte sich seit jeher vor diesen Wäldern gefürchtet. Aber heute wirkten sie fast einladend.

Sie atmete tief ein und schloss die Augen. Sie wollte sich in Luft auflösen. Anna hatte keine Ahnung, wie sie die nächsten Stunden überstehen sollte. Wie sie hinunter auf den Rathausplatz gehen sollte, wo tausende Städter in Hochstimmung auf eine Hinrichtung warteten.

Die Tür zu dem kleinen Büro wurde geöffnet. Anna drehte sich nicht um. „Sie bringen ihn um, oder?", fragte sie leise, den Blick fest auf die Bäume der Zwischenstädtischen Gebiete gerichtet.

Samuel Schulz räusperte sich. „Es tut mir leid, Anna. Die Piratenjäger haben ihn zum Tode verurteilt."

Anna legte eine Hand an ihre Stirn und nickte langsam. Sie wandte sich an ihren Patenonkel, der sie traurig ansah. „Und ... und ich?", wisperte sie.

Samuel schüttelte den Kopf. „Kein Wort über dich. Natürlich nicht."

Anna holte tief Luft. „Okay. Okay, ich ..."

Er kam zu ihr und legte beide Hände auf ihre Schultern. „Hör mir zu, Anna. Hey, sieh mich an", sagte er, als Annas Blick wieder zum Fenster schweifte. „Sieh mich an. Sie werden es nicht wagen, dir etwas anzutun, hörst du? Deine Schwestern sind im Rat der Städte. Niemand kann dich verurteilen."

Anna nickte langsam. „Aber sie werden Nick umbringen", flüsterte sie. Ihren einzigen Freund. Die Piratenjäger würden Annas einzigen Freund hinrichten.

„Es tut mir leid."

Es klopfte an der Tür und Tom, Samuels Sohn, kam herein. „Wir müssen uns beeilen, es fängt gleich an."

Samuel fuhr sich über die müden Augen. „Anna, du musst hingehen. Sie müssen dich sehen."

„Ich kann nicht."

„Dir bleibt keine andere Wahl, wenn du leben willst", entgegnete ihr Pate und zog sie behutsam zur Tür.

„Ich bin unschuldig", sagte Anna ungehalten – zum vermutlich hundertsten Mal innerhalb der letzten Woche.

„Ich weiß." Sie eilten die Flure des Rathauses entlang. Samuel sprach leise aber bestimmt. „Aber Nick Sloan und die Piraten haben nicht allein versucht, das Rathaus in die Luft zu sprengen. Sie müssen Hilfe gehabt haben."

„Und das kann nur ich gewesen sein", sagte Anna bitter.

Tom schnaubte verächtlich. „Vielleicht solltest du dir das nächste Mal einfach Freunde suchen, die keine Piratensympathisanten sind."

Anna riss sich von Samuel los und stellte sich Tom in den Weg, sodass er stehenbleiben musste. „Hast du was zu sagen?", fragte sie wütend.

„Meine Familie riskiert seit Jahren ihr Leben für dich!", fuhr er sie an. „Und mit deiner Freundschaft zu Nick Sloan hast du alles aufs Spiel gesetzt – dabei habe ich euch von Anfang an gesagt, dass der Typ –"

16521 Band 1: Der Pirat, der Bär und der RegenWhere stories live. Discover now